PR TB 149 Die Grosse Flut
seit langen Jahren hatte es keine wirkliche Überschwemmung
mehr gegeben. Die Götter hatten Gnade walten lassen und die
Flüsse geschont. Woher immer wieder dieses gewaltige Wasser kam,
ob es vom Wolkenhimmel regnete oder durch unfassbaren Zauber in die
Flüsse geschickt wurde, wusste Shagana nicht. Er fürchtete
sich wieder. Er wusste, dass diese Furcht nicht weichen würde,
bis er starb oder durch ein gewaltiges Erlebnis der Freiheit von
dieser Last erleichtert werden würde.
Der schwarzbärtige Karawanenführer, dem das Hammelfett
aus den Mundwinkeln in das Barthaar troff, stieß ihn mit dem
Ellbogen an.
„Du fürchtest dich, wie?“
„Ja“, gab der Oberhirte zu. „Ich fürchte
mich vor nichts und niemandem in der Natur ringsum. Nicht vor dem
Sturm, dem Blitz und dem Donner. Ich fürchte mich vor dem Willen
der Götter. Denn ich weiß nicht, was sie wollen.“
Krachend schlug die schwere Pranke des Gespannführers auf
seine Schulter.
„Wenn du Karawanen durch dieses verfluchte Land fahren
müsstest, würdest du gar keine Zeit
haben, dich zu fürchten. Geh zu der kleinen Sklavin, sie
wartet darauf, dass du sie nimmst.“
Stumm schüttelte der Hirte seinen Schädel. Dann
flüsterte er:
„Glaube mir, Shailishu!“Er lachte rau auf, aus
Verlegenheit, als er aller Gesichter auf sich gerichtet sah. „Ich
kenne das Land wie kaum ein zweiter. Und ich sage euch allen, dass
große Gefahren kommen werden über das Land zwischen den
Strömen!“
Er warf den abgenagten Knochen ins aufstiebende Feuer, stand auf
und hob beide Arme zum nächtlichen Himmel hoch. Leuchtend, kalt
und rund wie ein Auge, das ihn anstarrte und alles sah, was in seinen
Gedanken gedacht wurde, stand der Mond zwischen den anderen
Götteraugen.
„Glaubt es mir, Leute!“schloss der Hirte und ging
davon, in die Richtung seiner Behausung, die auf dem Rücken
dreier Ochsen mühelos wegzuschleppen war.
Der Bote gehörte ihrer kleinen Palastgarde an. Dies
bedeutete, dass er bereits als Junge in allen Künsten des
Überlebens und des Kämpfens ausgebildet worden war, die von
der Herrscherin vermittelt werden konnten. Vor zweieinhalb Monden
hatte Alyeshka ihn ausgeschickt, von großer Unruhe getrieben.
Jetzt stand er vor ihr und war nur noch ein Schatten seiner selbst.
Die Waffen waren stumpf und zersplittert, die Kleidung bestand nur
noch aus Fetzen, die Stiefel waren mehrmals geflickt. Die Farbe, die
er als Schutz gegen die Hochlandräuber angelegt hatte, stank
betäubend. Sein Haar war versengt, der Bart wucherte, und die
Augen lagen in tiefen dunklen Höhlen. Er atmete keuchend und war
am Ende seiner Kraft. Halb bewusstlos hatte die Patrouille ihn vor
den Wällen Ninives aufgegriffen.
„Herrin!“sagte er leise und ließ sich ihr
gegenüber vorsichtig in einen fellüberzogenen Sessel
nieder, „Herrin! Ich komme zu dir, und hinter mir dringt die
Gefahr ins Land.“
„Berichte, Nisobar!“
Die Herrscherin über die langsam wachsende Stadt am Tigris
wohnte in einem kleinen, einfachen Palast. Er war neunhundertfünfzig
Planetenumläufe alt. Jeder Steinbrocken, den sie teilweise
selbst zugehämmert hatte, stellte eine Reliquie dar, vom Hauch
einer winzigen Ewigkeit umgeben.
Nisobar, ein Mann im reifen Alter von achtundzwanzig er hatte sie
einige Monde lang lieben dürfen -, holte Luft und begann zu
berichten. Und mit jedem Wort, das sich aus seiner heiseren Kehle
entrang, begann die Ewigkeit der langen Jahre seit dem Beginn der
Wanderung zu schrumpfen.
Mit dem Nagel des Zeigefingers berührte Alyeshka einen
kleinen Gong. Das leise Pochen brachte zwei junge Mädchen
herein, die lächelnd warteten. Schmerzlich wurde der Herrscherin
bewusst, dass alle die Einsichten von damals richtig waren. Erziehung
ohne Peitsche, das hatte sie lernen müssen.
„Bringt heißen Wein mit stärkendem Honig, dann
eine Brühe von fettem Fleisch. Und richtet für Nisobar den
Raum unter der Turmterrasse ein. Ein Bad, Kleidung, alles!“
„Wir bereiten alles sofort, Herrscherin!“
Die Mädchen eilten auf strohgeflochtenen Sandalen hinaus. Die
Herrscherin lauschte kurz auf den Lärm der arbeitenden Stadt,
der durch die offenen Fenster hereindrang, dann sprach der Bote
weiter.
Er vermischte Gerüchte und Wahrheiten.
Er berichtete genau, was er gesehen hatte. Seine Augen waren wie
die des Würgefalken, so schnell und scharf. Er hatte viel
gesehen, darunter eine Menge untrüglicher Zeichen. Und sie würde
seinem einfachen, aber scharfen Verstand noch mehr
Weitere Kostenlose Bücher