PR2632-Die Nacht des Regenriesen
Zeigefinger hielt. Langsam senkte er das Licht zur Wasseroberfläche der Cenote.
»Na?«
Er warf einen Blick über seine Schulter. Das Licht des Photonencrackers war hell genug, um die Umrisse von DayScha hervortreten zu lassen – wenn auch verwaschen und ungenau und in den falschen Farben wie in einem defekten Holo. Da stand sie, annähernd zwei Meter groß, dürr. Ihre Augen glühten, als lägen zwei schwach rot glimmende Stücke Kohle in ihren Augenhöhlen. Ein Paar Hörner wuchs ihr aus der Stirn.
»Beweg deine liebreizende Gestalt ruhig ein wenig näher«, forderte Geronimo sie leise auf. Die hohe Figur machte zwei, drei Schritte auf ihn zu. Stakste sie oder tanzte sie? Er würde es nie verstehen. Einerseits wirkten ihre Schritte ungelenk, tastend, fast wie die ersten Gehversuche eines lange Zeit Gelähmten; andererseits hatte jeder ihrer Schritte etwas Graziles, unmenschlich Leichtfüßiges.
Wie auch anders. Schließlich war sein Au-pair-Mädchen kein Mensch.
Geronimo richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Cenote. Er bewegte den Photonencracker ein wenig hin und her, als wollte er das Geschöpf, das dort so dicht unter der Wasseroberfläche dümpelte, hypnotisieren. Das Wesen folgte dem Schein aufmerksam mit einem Pendeln seines breiten, flachen Schädels. Die Kiemenbüschel, zart rosafarben und stark befranst, standen ihm wie eine Federboa vom Kopf ab. Das Tier schien ihm freundlich zuzulächeln.
»Ein Lurch, nicht wahr?«, fragte DayScha.
»Es ist ein Axolotl«, flüsterte Geronimo. Das Tier betrachtete ihn aus seinen weit auseinanderstehenden, lidlosen Augen.
»Ist es intelligent?«, fragte DayScha.
»Je nachdem«, kicherte Geronimo. »Nimmt man dich zum Maßstab: ja, sehr sogar. Verglichen mit mir: eher nicht.«
»Du bist nicht sehr charmant«, beschwerte sich DayScha.
»Muss ich auch nicht sein«, sagte Geronimo. »Erstens bin ich fast noch ein Kind, und du musst mich nicht charmant finden, sondern süß. Oder putzig. Zweitens – ist es ja auch egal. – Hallo!«, begrüßte er den Axolotl, der den Kopf langsam aus dem Wasser hob. »Guten Tag, mein Freund.«
Der Axolotl musterte den Photonencracker in Geronimos Hand eine Weile, dann glitt er zurück und verharrte drei, vier Zentimeter unter dem illuminierten Wasserspiegel.
»Deinen Eltern gegenüber hast du weniger Wert darauf gelegt, Kind zu sein«, sagte DayScha.
Geronimo überhörte die Anmerkung. Seine Eltern waren zurzeit kein gutes Thema. »Es ist ein lehrreiches Tier«, sagte er stattdessen. »Unsere Mediker haben von ihm gelernt, wie es geht, Arme und Beine nachwachsen zu lassen. Das Herz, die Nieren, sogar die Leber. Er«, Geronimo wies auf das Tier, »kann das übrigens auch mit seinem Gehirn.«
»Oki. Er regeneriert also sein zentrales Nervensystem?«, fragte DayScha nach.
Geronimo nickte. »Wenn ihm ein Bein abgebissen wird, kannst du zuschauen, wie es nachwächst.«
»Hm«, machte DayScha.
»Allerdings wird er nie erwachsen«, sagte Geronimo. »Vielleicht ist das der Preis. Er bleibt immer Larve. Er atmet nur unter Wasser und durch Kiemen. Ihm fehlen nämlich die Hormone, die man braucht, um die Metamorphose zum erwachsenen Lurch durchzuführen.«
»Dein Totemtier?«, spöttelte DayScha.
Geronimo kicherte. »Du entwickelst einen erstaunlich hohen Kratzbürstigkeitsfaktor. Respekt.«
»Danke!«
»Falls du andeuten willst, dass ich nicht erwachsen werden will: Ich werde erwachsen, ob ich will oder nicht. Da wir übers Erwachsenwerden und Lurche plaudern: Warum hast du in deinem fortgeschrittenen Alter immer noch nicht den Lurch fürs Leben gefunden und brütest viele kleine Cheborparneriche aus, statt deine Zeit auf Terra zu vergeuden?«
»Es geziemt sich nicht, mit einem Außepspoptischen über die Schar meiner intimen Gefährten zu sprechen«, beschied ihn DayScha.
Der Axolotl war ihrer Diskussion mit trägem Desinteresse gefolgt. Der Photonencracker begann zu flackern und zu schwächeln. Das Tier nickte Geronimo zu und begann abzutauchen.
»Hast du keinen Hunger?«, wechselte Geronimo das Thema.
»Essen Terraner diese Tiere?«, fragte DayScha zurück.
»Das ist wie alles im Leben eine Frage der Sauce«, dozierte Geronimo. »Übrigens kann man es durchaus essen. Es gilt vielen als Delikatesse. Sogar als heiliges Tier. Eine heilige Delikatesse gewissermaßen.«
Der Axolotl hatte seine Worte mit einem Anflug von Misstrauen gehört, wie ihm schien. Mit einem leisen Glucksen tauchte es weiter
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