Ich habe sie geliebt
Marion weckt uns. Sie läßt ihre Puppe über die Daunendecke laufen und erzählt dabei eine Geschichte von verschwundenen Lutschern. Lucie berührt meine Wimpern: »Deine Augen sind ganz verklebt.«
Wir ziehen uns unter der Decke an, im Zimmer ist es zu kalt.
Das ächzende Bett bringt sie zum Lachen.
Mein Schwiegervater hat in der Küche Feuer gemacht. Ich sehe ihn ganz hinten im Garten, wo er im Schuppen Feuerholz holt.
Es ist das erste Mal, daß ich mit ihm allein bin.
Ich habe mich in seiner Gesellschaft nie wohl gefühlt. Zu distanziert. Zu verschlossen. Und alles, was Adrien mir über ihn erzählt hat, wie schwierig es war, unter seinem Blick, seiner Strenge, seinen Wutanfällen aufzuwachsen, die Qualen in der Schule.
Das gleiche gilt für Suzanne. Ich habe zwischen den beiden nie so etwas wie Zärtlichkeit gesehen. »Pierre zeigt seine Gefühle nicht gern, aber ich weiß, was er für mich empfindet«, hatte sie mir eines Tages anvertraut, als wir beim Bohnenputzen über die Liebe sprachen.
Ich hatte genickt, aber nicht verstanden. Ich verstand diesen Mann nicht, der sich ständig zurücknahm und in seinem Schwung bremste. Bloß keine Gefühle zeigen, aus Angst vor Schwäche, das habe ich noch nie begriffen. Bei uns zu Hause küßt und berührt man sich, wie man atmet.
Ich erinnere mich an einen erregten Abend in dieser Küche. Meine Schwägerin Christine beschwerte sich über die Lehrer ihrer Kinder, nannte sie inkompetent und borniert. Anschließend war das Gespräch auf die Erziehung im allgemeinen und die ihre im besonderen gekommen. Und der Wind hatte gedreht. Klammheimlich. Die Küche hatte sich in ein Tribunal verwandelt. Adrien und seine Schwester die Staatsanwälte, der Vater auf der Anklagebank. Was für eine peinliche Situation. Wäre es wenigstens zum Eklat gekommen, aber nein. Die Verbitterung war unterdrückt, der große Knall vermieden worden, und man hatte sich auf ein paar böswillige Sticheleien beschränkt.
Wie immer.
Wie hätte es auch anders sein sollen? Mein Schwiegervater weigerte sich, in die Arena hinabzusteigen. Er hörte sich die scharfen Bemerkungen seiner Kinder an, aber er gab nie eine Antwort darauf. »Eure Kritik perlt an mir ab wie an den Federn einer Ente«, schloß er stets lächelnd, bevor er sich zurückzog.
Dieses Mal war die Diskussion jedoch schärfer verlaufen.
Ich sehe sein verzerrtes Gesicht noch vor mir, seine Hände, die krampfhaft die Wasserkaraffe umschlossen hielten, als wollte er sie vor unser aller Augen zerdrücken.
Ich stellte mir all die Worte vor, die er nie aussprechen würde, und versuchte zu begreifen. Was genau nahm er wahr? Woran dachte er, wenn er allein war? Und wie war er in intimen Situationen?
Aus reiner Verzweiflung hatte sich Christine an mich gewandt:
»Und du, Chloé, was sagst du zu alledem?«
Ich war müde, ich wollte, daß dieser Abend ein Ende nahm. Ich hatte meine Dosis an Familieninterna längst bekommen.
»Ich«, hatte ich nachdenklich gesagt, »ich glaube, daß Pierre nicht unter uns lebt, nicht wirklich, meine ich, ich glaube, daß er eine Art Marsmensch ist, der sich in die Familie Dippel verirrt hat …«
Die anderen hatten mit den Schultern gezuckt und sich abgewandt. Er nicht.
Er hatte die Karaffe losgelassen und sein Gesicht für einen Moment geöffnet, um mir zuzulächeln. Es war das erste Mal, daß ich ihn auf diese Weise lächeln sah. Und vielleicht auch das letzte Mal. Ich hatte das Gefühl, als sei an diesem Abend so etwas wie eine Komplizenschaft zwischen uns entstanden. Etwas ganz Zartes. Ich hatte versucht, ihn so gut ich konnte zu verteidigen, diesen seltsamen Marsmenschen mit den grauen Haaren, der sich soeben mit einer Schubkarre voller Holz der Küchentür näherte.
*
»Alles in Ordnung? Ist dir nicht kalt?«
»Alles in Ordnung, vielen Dank.«
»Und die Kleinen?«
»Sie schauen sich einen Zeichentrickfilm an.«
»Kommen um diese Uhrzeit schon Zeichentrickfilme?«
»In den Schulferien jeden Morgen.«
»Aha – wunderbar. Hast du den Kaffee gefunden?«
»Ja, ja, danke.«
»Und du, Chloé? Apropos Ferien, mußt du nicht …«
»In meiner Firma anrufen?«
»Nun ja, ich weiß ja nicht.«
»Doch, doch, ich werde anrufen, ich …«
Ich fing wieder an zu weinen.
Mein Schwiegervater senkte den Blick. Er zog die Handschuhe aus.
»Entschuldige, ich mische mich in Sachen ein, die mich nichts angehen.«
»Nein, nein, das ist es nicht, es ist nur, daß – ich fühle mich so verloren. Ich bin
Weitere Kostenlose Bücher