Prinz-Albrecht-Straße
Treppe des Schicksals. An seinem Hals würgten Geisterhände. Auf seinen Schultern drückte eine Last. In jedem Winkel lauerte der Angriff. In jedem Geräusch wisperte der Tod.
Zweiter Stock. Das Haus war still. Totenstill. Formis blieb stehen und lauschte, als ob er schon den Motor des Polizeiwagens hören könnte, der jetzt im nächsten Dorf anspringen mußte. In neun Minuten, dachte der Mann aus Deutschland, kommt Hilfe. Er wußte, daß ihm das Leben die Preisaufgabe stellte, in diesen achttausend Herzschlägen entweder ermordet … oder zum Mörder zu werden.
Rudolf Formis betrat sein Zimmer. Seine Hände waren jetzt ganz ruhig, sein Kopf war ganz klar. Seine Augen blieben an der roten Glühlampe des Sendegeräts hängen. Das Uhrwerk der Höllenmaschine sahen sie nicht. Langsam griff der Emigrant nach dem Mikrophon. Ein paar Sekunden noch bis zwanzig Uhr. Er atmete tief. Dann drückte er den Schalter herunter.
»Hier ist die Stimme der Freiheit …«, sagte er fest und ärmlich. »Ich rufe meine Freunde in Deutschland …«
In der linken Hand hielt Formis das Mikrophon, in der rechten die Pistole. Er würde nicht zögern. Er würde schießen. Und er würde treffen.
Während er sprach, bezog sein Blick Wache. Während er sich hinter Mauern, Wänden und Schlössern verschanzte, schlugen sich seine Worte zur Heimat durch. Dabei tauchte der verlorene Glanz seiner Augen in die Ferne einer Hoffnung.
»Ich rufe meine Freunde in Deutschland …«, sagte Rudolf Formis zum zweiten Mal.
In diesem Moment drückte ein Stockwerk tiefer Werner Stahmer seine Zigarette aus. Der Komplize nickte ihm zu. Das Grinsen auf seinem derben Schlägergesicht verschwamm im Halbdunkel. Der Agent trat an die Tür und horchte. Ihre Ohren verfolgten, wie Formis nach oben ging, das Knirschen des Schlüssels, das Schließen der Tür.
»Er sendet«, sagte Stahmer lakonisch.
Er spürte die Spannung, und er empfand Ekel. Er wußte nicht, warum. Das Gesetz, unter dem er handelte, fragte nicht nach Anstand, nach Menschlichkeit, nach Vernunft. Der Sendung des Reichssicherheitshauptamtes hatte sich nicht darum zu kümmern. Aus dem Nebel der Gedanken zeichnete sich Heydrichs kaltes Gesicht ab. Und seine Augen sind starr, drohend, wasserhell …
»Während er sendet«, fuhr Stahmer halblaut fort, »ist er abgelenkt … Er darf nicht merken, daß die Türe aufgeht … Ich presse ihm die Kehle zu … Sie drücken ihm sofort das Chloroform ins Gesicht … Geschossen wird nicht … Klar?«
»Ja«, erwiderte der Mann namens Georg gleichgültig.
»Sie tragen ihn hinunter … ich sichere den Gang und hole das Mädchen aus der Wirtsstube … Hoffentlich springt der Wagen gleich an …«
Stahmers zögernde Hand berührte die Türklinke wie ein Verbrecher. Georg folgte ihm. Sie trugen Schuhe mit Gummiabsätzen. Sie hatten Pistolen und Eierhandgranaten in der Tasche. Sie hielten das Chloroform bereit. Sie schlichen nach oben. Unbemerkt. Erreichten die zweite Etage. Verschnauften ein paar Sekunden.
Von unten aus der Gaststube wehten Gesprächsfetzen nach oben. Ein Mann sprach hastig und schnell. Es war der Wirt. Stahmer kannte seine Stimme. Es hörte sich an, als ob der Mann telefonieren würde. Der Agent zuckte die Schultern. Hoffentlich machte Ira keine Dummheiten, dachte er flüchtig …
Die junge Frau saß wie angeklebt. Sie begriff, daß der Hotelier zum zweiten Male mit der Polizei sprach und sie zur Eile hetzte, obwohl sie kein Wort verstand. Sie war erleichtert darüber. Dann lähmte sie die Angst. Erst jetzt erfaßte sie, was sie getan hatte, daß sich ihr Mitleid einer ›Geheimen Reichssache‹ zum Duell stellte. Die Reaktion einer Frau gegen die Pranke des Teufels. Mein Gott, dachte sie, wenn nur der Mann mit dem stillen Gesicht und den feinen Händen durchkommt, dann ist alles gut … Ich werde mich schon irgendwie herauswinden.
Iras Blick betrachtete das Zifferblatt der Wanduhr wie ein Vexierbild. Zwanzig Uhr null eins. Kein Geräusch kam von oben. Der Wirt hantierte nervös an der Theke. Ab und zu streifte er Ira mit mißtrauischen Augen. Dann sah er wieder auf die Uhr. Er wußte, daß die Zeit das Diktat der Handlung an sich gerissen hatte. Dabei möchte er eingreifen, helfen, nach oben gehen.
Aber er stand und wartete. Stehen und Warten, das Schicksal von Millionen, die das braune System haßten …
In diesem Moment stieß Werner Stahmer seinen Komplizen in die Seite. Die beiden schieben sich ganz langsam nach links,
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