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Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)

Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)

Titel: Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirstin Warschau
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    E r saß am Fenster und wartete. Seit einer Stunde hockte er an seinem Platz zwischen den Geranientöpfen, stützte die Ellenbogen auf die weiß gestrichene Fensterbank und starrte hinaus. Erst spät war die kurze nördliche Sommernacht mit ihrem blauen Dämmerlicht über Holtenau hereingebrochen. Bogenlampen warfen ein schwaches Licht auf die Fahrbahn und den Bürgersteig der Kanalstraße. Nur von drüben, von der Schleuseninsel her, leuchtete Flutlicht hinter dunklen Baumwipfeln hervor und verschmolz mit den Lichtern der Stadt, die jenseits der Schleusen lag.
    Hans Hinrichs lauschte. Es war still in dem hohen, alten Haus, von dem aus man auf den alten Seitenarm des Nord-Ostsee-Kanals blicken konnte. Das viel beschäftigte Ehepaar Schmirgel im Erdgeschoss schlief seit Stunden. Auch von Herrn Müller, dem ewigen Studenten oben in der Dachwohnung, der gelegentlich mitten in der Nacht Stühle rückte und seinen Drucker stundenlang rattern ließ, war kein Laut zu vernehmen. Hans Hinrichs vermutete, dass er vorzeitig in die Ferien aufgebrochen war. Letztes Wochenende war er in der Nacht des großen Abschlussfeuerwerks, das traditionell die Kieler Woche beendete, singend die Treppe nach oben gepoltert und hatte seitdem keinen Mucks mehr getan. Das konnte nur bedeuten, dass er bei seiner Mutter war, die ihm die Wäsche machte und sein Auto bezahlte.
    Es war vollkommen still im Erker zwischen den Blumen. Selbst die Möwen, die sonst zu allen Tageszeiten draußen auf dem Dachfirst saßen und schrien, waren verstummt. Nur die Uhr an Hinrichs’ Handgelenk bewegte ihre fluoreszierenden Zeiger in gleichförmiger Langsamkeit über das Ziffernblatt.
    Vorsichtig zog er das Spiralheft heran. Der Kugelschreiber lag bereit. Der, auf den er wartete, würde kommen, davon war er überzeugt. Die Nacht war lau, der Mond noch nicht aufgegangen, und Hinrichs hatte Muße zu warten. Seine Hände zitterten wie so oft in der letzten Zeit, die Schrift geriet krakelig, als er am Ende einer langen Spalte Datum und Uhrzeit notierte. »Sonntag, 1.Juli, 0.45 Uhr, keine Vorkommnisse.«
    Die Aufzeichnungen mussten exakt sein, so gehörte es sich. Gelernt war gelernt, das steckte in einem nach sechsundvierzig Jahren Arbeit in der Verwaltung. Da nützte es nichts, dass man ihn mit Einführung der Computer aus Altersgründen in Rente geschickt hatte, fortan zu nichts weiter verpflichtet, als Miete zu zahlen und die Klappe zu halten. Die Aufzeichnungen mussten sein. Besonders in den Nächten, wenn er nicht schlafen konnte, brauchte er die Gewissheit, dass er noch klar denken konnte – auch wenn sein Körper langsam verfiel, das Herz oft schwach und unregelmäßig schlug, der Brustkorb schmerzte und das Atmen nicht immer leichtfiel. Sicher, er hatte sein Spray, aber manchmal erinnerte er sich nicht mehr daran, wo er es hingestellt hatte.
    Plötzlich bemerkte er draußen eine Bewegung. Unwillkürlich hielt er die Luft an. Das musste er sein. Er kam wie immer aus Richtung des Fähranlegers und ging mit wiegendem Schritt den unbefestigten Gehweg auf der anderen Straßenseite entlang. Die dunkle Buchenhecke, die die Straße von der Schleusenwiese trennte, verbarg ihn fast vollkommen. Aber Hinrichs sah ihn trotzdem, und es bereitete ihm eine diebische Freude, dass der andere nichts von seinem Beobachter wusste.
    Hinrichs griff zum Stift, um die Uhrzeit zu notieren. Es war jetzt exakt null Uhr neunundvierzig. Als er aufsah, war der Mann bereits durch die Hecke geschlüpft, hatte die Wiese überquert und den Wanderweg erreicht, der am Altarm des Kanals entlangführte. Das Flutlicht drüben auf der Schleuseninsel fiel durch die Bäume bis aufs Wasser, und Hinrichs konnte die Umrisse des Mannes deutlich erkennen, der vornübergebeugt dastand und in den Kanal starrte.
    Hans Hinrichs zog das Opernglas aus der Hosentasche. Als Marie, seine Frau, noch lebte, war sie gern nach Kiel ins Opernhaus gefahren. Ihm selbst hatte das langatmige Gesinge und Gedudel dort nie zugesagt. Da hatte er sich lieber an Volkstümliches gehalten wie den Lotsengesangverein Knurrhahn zum Beispiel, der war mehr nach seinem Geschmack, und er hatte einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, möglichst keines der Konzerte auszulassen. Maries kleines Opernglas war nicht besonders gut, aber für die Beobachtungen, die er seit einiger Zeit durchführte, reichte es aus.
    Als vor ein paar Jahren drüben in der Wik, auf der gegenüberliegenden Kanalseite, das Paraffinlager gebrannt hatte, da hatte er

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