Prinz-Albrecht-Straße
Frau war auf einmal verwirrt. »Ich hatte eine kleine Erkältung, als ich ankam«, sprudelte sie heraus, »jetzt ist sie weg.« Es klang nicht echt. Es stimmte auch nicht.
Formis nickte. »Mir ging es genauso«, stellte er fest. »Kaum war ich hier, konnte ich wieder frei atmen …« Er lachte trocken.
Ira betrachtete ihn aufmerksam. Auf einmal hatte er rote Flecken auf den Wangen, und sein Blick wirkte fern und verloren. Sie setzte sich ihm gegenüber, ordnete mechanisch die Figuren. Ihr Spiel war zerfahren. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie achtete nicht auf Felder und Züge, sondern ihre Augen fanden sich immer wieder auf dem Gesicht des Partners.
Er paßte sich ihr an. Er hätte sie ein paarmal schachmatt setzen können. Aber er beging absichtlich Fehler. Daß er unfreiwillig den schlimmsten Fehler seines Lebens begangen hatte, als er seinem Verfolger hier Quartier verschaffte, ahnte er nicht.
Wieder fing er einen Blick der jungen Frau auf. »Warum sehen Sie mich denn so an?« fragte er mit gezwungenem Lächeln.
»Entschuldigen Sie …«, entgegnete Ira schnell, »ich spiele heute wirklich schlecht …«
»Ich gebe Ihnen meine Dame vor«, bot Formis an.
Seine Wärme, seine Hilfsbereitschaft trieben wie eine Woge auf sie zu. Ira ahnte, was dieser Mensch mitmachte, wie er litt, wie einsam er war, welche unglaubliche Energie dazu gehörte, sich selbst in ein solches Nest zu verbannen und das Spiel seines Lebens zu wagen.
Das Gesicht des blonden Mädchens wurde fahl, sie sah diesen ernsten Kopf mit den feinen Zügen blutig, wachsgelb, starr. Tot. In dieser Sekunde erkannte sie, welchen Befehl Werner Stahmer aus Berlin mitbringen würde. Das Grauen schüttelte sie. Und ich, überlegte sie, bin der Lockvogel, ich werde mitschuldig sein …
»Was haben Sie nur?« fragte Formis ruhig.
»Nichts«, entgegnete Ira verstört.
Sie stand langsam auf, ging ein paar unsichere Schritte, drehte ihm ihr blasses Gesicht noch einmal zu.
»Mir ist … sehr übel …«, sagte sie. Die Worte verdämmerten langsam im Raum.
Formis schüttelte den Kopf. Dann war seine Überlegung bei der Fernpartie.
Dem Spiel mit Australien – dem Kampf gegen Berlin.
4
Stahmer mußte noch einen Tag in der Reichshauptstadt bleiben. Das RSHA traf noch Vorbereitungen und suchte Hilfstruppen. Der Agent trieb im Gewühl von Berlin und fürchtete sich vor dem Abflug. Der neblige Abend war von Lichtreklamen durchglüht. Über den schwarz-nassen Asphalt legten die Scheinwerfer endloser Autokolonnen goldene Ketten. Der dunstige Himmel der großen Stadt wölbte sich wie eine Glutglocke über einem Hochofen.
Der Agent ließ sich von dem tobenden Rummel fortspülen. Der Lärm, das Hupkonzert, das Gekreisch der Straßenbahn, die Ausrufe der Zeitungsverkäufer wirbelten um ihn herum. So war es jedesmal, wenn er von Heydrich kam. An der Stelle des Rückgrats saß der neue Auftrag. Jawohl, Gruppenführer. Stahmer spürte faden Geschmack auf der Zunge, von Kupfer, von Pulver, von Grünspan. Vielleicht auch von Blut. Jawohl, Gruppenführer …
Schnaps, dachte er. Am besten wäre es, sich zu betrinken. Er begann damit. Dann suchte er in seinem Notizbuch Adressen. Noch besser wäre es, ein Mädchen anzurufen. Eine der viel zu vielen. Der Überflüssigen. Der Zukurzgekommenen oder zu seicht Geratenen. Irgendeine, wie er sie im Dutzend nahm und wieder wegwarf. Wie sie über eine Nacht wie diese hinweghelfen konnten.
Die Verabredung klappte. Irgendeine. Irgendwo. Irgendwohin. Stahmer spürte schon den Schnaps. Er ging zu Fuß zum Taxistand. Seine Beine irrten wie seine Gedanken. Morgen. Er zwang sich, daran zu denken. Er sah Formis vor sich. Er ging über die Grenze. Er schleuderte Handgranaten. Neben ihm saß Ira. Und dann sah er sich eines Tages, irgendwo. Und er hatte das gleiche wachsgelbe Gesicht wie Formis, den er aufgestöbert hatte. An einem Auftrag mußte er krepieren. An einem Tag. In einem Jahr. Auf den dreckigen Wegen der unsichtbaren Front gibt es keine Lebensversicherung. Und so sehr sie auseinanderstrebten, führten sie doch ins gleiche Ziel. In die Gemeinheit. In den Abgrund.
In die Hölle … die vorübergehend ihren geographischen Sitz in Berlin genommen hatte.
5
Der Wind hauchte seinen eisigen Atem gegen das einsame Hotel über der Moldau. Drinnen hörte es sich an wie fernes Gewinsel, traurig und schaurig. Das Licht kam aus dem Dämmern nicht heraus. Die Wirtsstube lag im Halbdunkel. Im Kachelofen bullerten riesige
Weitere Kostenlose Bücher