Prinz für die Köchin
schon im Kleinkindalter begonnen. Wenn sie mit ihren Teddybären Teepartys abhielt, hatte sie stets reichlich von den unterschiedlichsten Fantasiespeisen aufgetischt: Biskuittorte, Mandelkuchen, Vanille-Schichtpudding mit Himbeeren …
Als ihre Brüder und Schwestern das Interesse an derlei kindischen Freuden verloren, hatte sie eben gelernt, Spiele, bei denen es ums Essen ging, allein zu spielen. Sie mochte ja die dürftigen Mahlzeiten der anderen teilen, die aus Fertigsuppe oder Kochbeutelreis und – wenn sie Glück hatte – dem einen oder anderen Stückchen Orange bestanden, ihre Stofftiere jedoch genossen weiterhin die köstlichsten Leckereien.
Später gewöhnte sie sich an, die Sonntagszeitung aus dem Altpapierstapel zu kramen, um die Rezepte auszuschneiden und sie in ein Tagebuch zu kleben, das sie ganz hinten in ihrem Kleiderschrank aufbewahrte. Nachts, wenn sie im Bett lag und kurz vorm Einschlafen war, trieb sie in eine eigene Welt davon. Vor ihrem geistigen Auge sah sie eine Tafel. Darauf schrieb eine Hand mit weißer Kreide das verheißungsvolle Wort »Tageskarte«. Während sie sich bequemer zurechtkuschelte, machte Imogen sich daran, das perfekte Menü zu kreieren. Muschel- und Zucchini-Quiche vielleicht. Tomatentarte mit Estragon und Mascarpone. Oder Zwiebelkuchen mit Pancettawürfeln. Nein, nicht Zwiebeln, Lauch – Lauch war so viel schmackhafter. Sie wurde sanft eingelullt von den verlockenden Aromen klein gehackter Kräuter und reifer Strauchtomaten, von Miesmuscheln und Weißwein und karamellisiertem Schinken, Düften, die sie allesamt im Geiste heraufbeschwor. Und während sie so langsam in den Schlaf hinübertrieb, bewegten sich ihre Hände unbewusst auf der Bettdecke und arbeiteten rasch ein Stück kalte Butter in einen Teig ein. Sie drehte das Rechteck im Uhrzeigersinn und faltete es, drehte und faltete es abermals, drehte und faltete es …
Auf diese Weise vergingen zwei Jahre.
Imogen war vierzehn, als eine neue Nachbarin in das leer stehende Haus nebenan zog, eine ältere Frau namens Di Blanding. Eines Tages kickte George versehentlich seinen Fußball über den Gartenzaun, und Imogen, die ihre Geschwister zur Gehilfin und Dienstmagd gemacht hatten, wurde losgeschickt, um den Ball zurückzuholen. Eine grauhaarige und etwas forsche Lady Mitte fünfzig kam an die Tür und erlaubte Imogen, den Ball in ihren eigenen Garten zurückzuwerfen. Die Frau trug eine Schürze, und ihre Stimme klang fast genauso wie die der Queen.
Als sie danach durch den Flur zur Haustür zurückgingen, blieb Imogen wie angewurzelt stehen und fragte, was denn das für ein wunderbarer Geruch sei. »Ich backe gerade«, antwortete Di. »Magst du Bananen-Teekuchen?«
»Äh … also, ich weiß nicht«, antwortete Imogen. »Bei uns zu Hause essen wir nie Kuchen.«
»Ich verstehe«, meinte Di mit neutraler Stimme. »Nun ja, hättest du Lust, mir zu helfen?« Während sie in die Küche vorausging, schaute sie sich nach Imogen um und fügte hinzu: »Ich glaube, wir machen vielleicht lieber auch noch ein bisschen Teegebäck.«
Imogen konnte sich noch immer an die Freude erinnern, als sie ihr Gemeinschaftswerk aus dem Ofen holten, ein Blech voller goldener Scones mit Johannisbeeren drin. Sie und Di hatten in der warmen, süß duftenden Küche gesessen, Tee getrunken und die köstlichen Teeküchlein verspeist, dann war Imogen mit einem Teller voller Scones nach Hause gehüpft.
Der Empfang, der diesen zuteilwurde, war enttäuschend. »Oh, danke«, brummte George nur und nahm geistesabwesend einen Bissen.
»Die habe ich selbst gemacht«, verkündete Imogen stolz. »Mit der Frau von nebenan.«
»Mm-hmm«, knurrte Hildegard und blickte kaum von ihrem Buch auf.
Mittlerweile ging George, der das Gebäckstück weggelegt und völlig vergessen hatte, zum Spielen nach oben. Dann kam ihre Mutter herein. Ohne zu lächeln bedachte sie Imogen mit einem Kopfschütteln, fragte: »Hast du keine Hausaufgaben, Liebling?« und ging wieder in ihr Atelier.
Die Teeküchlein lagen etliche Tage da, unbegehrt und ungelobt, bis sie ziemlich trocken wurden. Dann sagte Elsa eines Morgens: »Ach, jetzt schmeiß die Dinger doch endlich weg, Schatz, ja?«, und eine geknickte Imogen hatte gehorsam die Reste ihres ersten Backversuchs entsorgt.
Viele ähnliche Vorkommnisse – zum Beispiel, dass ihr Geburtstag gefeiert wurde, indem man eine kleine Kerze lieblos in ein Stück Obst rammte – hatten Imogen schließlich in eine Rebellin verwandelt.
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