Prinzentod
Das ist seine Stimme. Das kann keine Einbildung sein ! Ich springe auf und sehe mich nach allen Seiten um. Doch d a ist niemand, nicht mal ein Vogel .
»Hilf mir«, dröhnt es laut. Und dann ganz nah und ein letztes Mal: »Hilf mir.« Ich halte das nicht aus und renne weg, renne immer weiter und weiter über den Friedhof, bis ich völlig außer Atem stehen bleibe. Hier ist es durch die riesigen Baumkronen fast so dämmrig, als wäre die Sonne längst untergegangen. Gerade als ich wieder etwas langsamer atme, krallt sich eine feuchte Hand von hinten in meine Schulter. Ich schreie durchdringend, doch die Hand bleibt, ich drehe mich ruckartig um und erschrecke noch mehr. Ein kleiner, vom Alter gebeugter Mann grinst mich mit seinen plastikweißen Zähnen an und schüttelt den Kopf. »Ist ja gut, junges Fräulein«, nuschelt er, »aber rennen auf dem Friedhof, das geht nicht.« »Ich habe solche Angst...«Ich atme jetzt wieder stoßweise und bringe die Worte kaum heraus. »Angst?« Der Alte schüttelt den haarlosen Kopf. »Vor der Angst kann man nicht weglaufen, niemals. Man nimmt sie überallhin mit.« Er schlurft mit seiner leeren Gießkanne weiter zum Brunnen, noch immer kopfschüttelnd, während mir bewusst wird, was ich gerade gesagt habe. Ich habe Angst. Seit Tagen bin ich außer mir vor Angst. Und das Schlimmste ist, dass ich selbst daran schuld bin. Ich sehe mich um, ich habe keine Ahnung, wo ich hier bin und wie ich zur Aussegnungshalle zurückkomme. Hilf mir, raunt es in meinem Kopf. Meine Knie beginnen zu zittern. Seine Stimme hat so echt geklungen, genau wie auf meinem Handy. Oder vielleicht werde ich jetzt einfach nur verrückt? Wieder setze ich mich in Bewegung, laufe ziellos los, zwi schen den ordentlichen Gräberreihen hindurch, und bleibe erst an einem besonders schönen Engel aus Marmor stehen. »Jäh dem Leben entrissen. Geliebt und nie vergessen.« Mehr steht nicht auf der dazugehörigen Steintafel. Das Grab ist völlig mit Efeu überwuchert, wirkt aber in der Hitze angenehm kühl. Ich schaue zum Himmel, der sich beinahe unnatürlich blau über den Friedhof wölbt. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich als Kind wirklich geglaubt habe, dass Mama dort oben lebt und auf mich aufpasst. »Nie vergessen«, steht auf dem Marmorstein. Ich weiß nicht mal mehr, wie Mama ausgesehen hat. Ich erinnere mich nur an Fotos von ihr. Wie sehr wünschte ich mir, dass sie hier wäre und mir sagen könnte, was ich tun soll. Ich war schon lange nicht mehr an Mamas Grab auf dem Nordfriedhof. Eine fette Amsel fliegt heran und lässt sich auf dem Kopf des Engels nieder, was so hässlich aussieht, dass ich spontan in die Hände klatsche, um sie zu verscheuchen. Die Amsel flattert kurz, bleibt aber sitzen und starrt mich mit roten Augen an. Seine Augen waren meergrün, und als ich sie zum letzten Mal gesehen habe, waren sie kalt wie Glasmurmeln. Wenn sein Leichnam jetzt verbrannt wird, bleibt nichts mehr von ihm übrig, nur die Erinnerung an ihn und... Asche. Keine anderen Spuren. Sein Tod bleibt so für immer und für alle ein Unfall.
Jäh dem Leben entrissen.
»Hilf mir!«, hat er gesagt und das werde ich jetzt tun . Ich muss Licht ins Dunkel bringen, das bin ich ihm schuldig , denn ich habe sein Herz in meinem Herzen getragen .
Erster Tei l
1. Kapitel
M anchmal weiß man genau, dass es völlig falsch ist, diesen einen Schritt zu tun, und dann tut man ihn. Trotzdem. Und es scheint, als hätte man nie eine Wahl gehabt. Aber das ist eine dumme Ausrede. Man hat immer die Wahl. Nur wenn ich an den ersten Augenblick denke, als mein Herz schlagartig und ungebeten aus dem Takt geriet, diesen Moment habe ich nicht gewählt, er war einfach da und er war ohne jede Schuld. Und doch war es genau dieser Moment, der schließlich alles zerstört hat. Es passierte an einem Tag, auf den ich mich schon lange sehr gefreut hatte. Es war der Tag, an dem mein Vater seinen neuen Job als Chefkoch auf dem Klubschiff Aida antreten musste und ich deshalb zu meiner Freundin Bernadette zog.
Bernadette und ich stehen vor der über hundert Jahre alten, gelb gestrichenen Villa und starren fassungslos hinter dem kleinen Lastwagen her, mit dem Papas Kollege Luigi meine Kisten zu Bernadettes Wohnung gefahren hat. Eigentlich hatte er Papa versprochen, uns zu helfen, aber als er gesehen hat, dass die Dachwohnung im vierten Stock liegt, zu dem kein Lift führt, hat er sich dramatisch an seine Brust gegriffen und etwas von seinem alten Herz gefaselt. Jetzt
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