Prinzentod
Selbst wenn ich mich zwinge, tief durchzuatmen und zu konzentrieren, nutzt es nichts. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich hier bin. Ich hätte mich niemals, niemals, niemals auf dieses Treffen einlassen dürfen, das ist es, was die kleine Stimme in meinem Kopf unablässig flüstert. Ich kenne sie gut, diese Stimme, ich habe in den letzten Tagen unablässig mit ihr gekämpft. Er aber auch. Und zum Schluss war er es, der gesiegt hat. Dabei sah es am Anfang überhaupt nicht danach aus. Die Tage nach dem Umzug habe ich ihn nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen und ich hätte vor Erleichterung jubeln mögen, als Bernadette mir nichts ahnend erzählte, dass ihr Stiefvater auf Geschäftsreise sei. Denn ich war noch immer völlig verstört darüber, was da auf der Treppe passiert war. Ich hatte ihn tatsächlich geküsst, und auch wenn er damit angefangen hatte, so hatte ich es doch genossen, so viel stand fest.
Wie konnte ich so mir nichts, dir nichts mit dem Stiefvater meiner besten Freundin rummachen? Mit dem Mann ihrer Mutter, den ich zu allem Überfluss überhaupt nicht kannte? Was zum Teufel hatte ich mir dabei gedacht? Was hatte er sich dabei gedacht? Doch dann kam seine erste E-Mail und dann die nächste und langsam wurde mir klar, was er sich gedacht hatte. Und ich war überrascht, was ich alles in ihm ausgelöst hatte. Er erklärte es mir mit vielen erstaunlich zärtlichen Worten In Sätzen, die ich, ohne es zu wollen, plötzlich auswendig konnte, Sätze wie diese: »Lache über den Burschen, der dich liebt, aber nimm mir niemals dein Lachen, denn sonst würde ich sterben.« Und obwohl es nur Worte waren, verdrängten sie alles, nichts sonst war mir mehr wichtig. Jeden Tag stürzte ich an den Computer und schaute nach, ob eine Mail von ihm da war, und so öffnete er eine Tür zu meinem Herzen, Millimeter für Millimeter, so lange, bis ich wider besseres Wissen nichts anderes mehr wollte, als ihm mein Lächeln zu schenken. Deswegen hatte er mich genau eine Woche oder elftausend Minuten nach unserem ersten Treffen so weit, dass ich die immer kleiner werdende warnende Stimme in meinem Inneren zum Teufel schickte und mich mit ihm verabredete. Und jetzt sitze ich hier und versuche verzweifelt, mir vorzulügen, dass ein Treffen im Eiscafé nichts Verbotenes ist und niemand dabei verletzt wird. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich zu einer Verabredung so oft umgezogen habe, nur um dann doch in Jeans und einem meiner Lieblingsshirts zu enden. Es ist federleicht, ganz weich und himmelblau und vorne drauf steht mit weißen Buchstaben: »Ich denke, also bin ich –«, und dann unten drunter: »– hier falsch«. Das hat mir meine Freundin Tabea zu meinem letzten Geburtstag geschenkt, zur Erheiterung für öde Schulstunden. Er ist da, ich spüre es, bevor ich ihn sehe. Er greift sich einen der Korbstühle, dreht ihn so, dass er mit gespreizten Beinen vor mir sitzt, legt die Hände auf die Lehne und betrachtet mich. Ich möchte lächeln wie Mona Lisa, denn seine aufmerksamen Augen tasten so behutsam und erfreut über meinen Körper, als wäre ich ein kostbares Kunstwerk. Ich muss mich zwingen, seinem Blick standzuhalten, denn es kribbelt überall und ich kann es kaum erwarten, bis er im Gesicht angekommen ist. Wie er mich anstrahlt! Dann erst winkt er der jungen Kellnerin, die für ihn auch selbstverständlich sofort kommt und seine Bestellung notiert. »Einen doppelten Espresso, bitte. Und du?«, fragt er. Mir fällt nichts ein. »Das Gleiche, danke«, sage ich, dabei ist mir Espresso immer viel zu bitter. Aber ich will jetzt kein Eis essen, das käme mir kindisch vor. »Ich nehme noch einen Nussbecher.« Er klappt die Karte zu und beugt sich vor. »Lissie, weißt du eigentlich, wie glücklich ich bin, dass du gekommen bist? Ehrlich gesagt, hab ich fast nicht damit gerechnet, dass du dich tatsächlich mit so einem alten Knacker wie mir treffen willst.« Er verzieht seine Mundwinkel zu diesem breiten Lachen, das seine Zahnlücke enthüllt, und fährt sich mit der Hand durch seine vollen Haare. In seinen E-Mails klingt er viel romantischer, aber mir ist klar, dass ein erwachsener Mann nicht immer das aussprechen kann, was er fühlt. Manche können das eben nur schreiben. Und jetzt möchte er natürlich, dass ich ihm sage, er wäre kein alter Knacker. Mal sehen, ob er auch über sich selbst lachen kann. »Na, hör mal«, erwidere ich also, »du bist doch höchstens doppelt so alt...« »Stimmt«, kontert er
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