Privatklinik
Bluttransfusionsgerät. Im Labor war die Blutgruppe Merckels bestimmt worden, während er sich mit Linden unterhielt. Die Oberschwester zog eine Spritze mit dem Anästhesiemittel auf. Da bei Leberkranken und bei Operationen im Halsbereich eine intravenöse Narkose nicht gegeben wird, hatte sich Linden für eine Sauerstoffgasanästhesie entschieden. Während die Schwester ein Curaremittel zur Herabsetzung des Muskeltonus injizierte, rollten zwei Assistenzärzte den großen Apparat des Kreislauf-Narkosegerätes heran, der mit Beatmungsanlage ausgerüstet war. Die OP-Schwester hielt den Luftröhrenkatheder bereit, durch den Merckel das Sauerstoff-Lachgas-Gemisch einatmen sollte.
Pfarrer Merckel sah auf das Narkosegerät.
»Solche Mühe mit einem alten, müden, versoffenen Mann!« sagte er laut. »Schicken Sie Ihre Mannschaft weg, Linden. Sie soll auf meine Kosten einen trinken!«
Dr. Linden lachte und klopfte Merckel auf die nackte Schulter. »So einfach geht das nicht, Pfarrer! Vor einigen Monaten, da haben Sie mich in Ihren eisernen Händen gehabt, so wie Sie den anderen in unserem Bund, den Peter Kaul, zurückzerrten auf den normalen Weg. Sie haben nicht lockergelassen, und selbst im Bunker, in Köln, habe ich oft an Ihre Worte denken müssen. Sie saßen in mir wie ein Dorn. Ich war ein schlechter Clochard, und das war Ihr Werk, Pfarrer. In einer Welt voller irrer Superlative saß ich wie ein Kind und begriff sie nicht. Das war meine Rettung! Nun bin ich am Zug, Pfarrer! Nun rette ich Sie!«
»Sie Phantast!«
Linden winkte. Die Narkoseärzte traten in Aktion. Sie beugten sich mit dem Luftröhrenkatheter über Merckel. Der Pfarrer sah sie verbissen an. »Mund auf!« kommandierte Linden laut.
Merckel nickte zu einem der jungen Ärzte. »Diesen Jüngling kenne ich. Nicht wahr … du hast bei mir die Heilige Kommunion bekommen?«
»Ja, Herr Pfarrer.« Der Narkosearzt benutzte das Sprechen Merckels und schob ihm schnell einen Spreizer zwischen die Zähne. Mit einem langen Blick sah Merckel noch einmal Dr. Linden an. Es war der stumme Abschied. Gleichzeitig schnallten Schwestern ihn fest. Handgelenke, Unterarme und Beine. Merckel ballte die Fäuste. Mit starrem Blick zur Decke betete er jetzt.
»… vergib mir meine Schuld …«
Zehn Minuten später öffnete Dr. Linden mit einem langen Schnitt den Hals Pfarrer Merckels.
Es war seit Monaten seine erste Operation an einem Menschen.
Eine Stunde wartete Prof. Brosius im Vorzimmer, saß auf seinem Kunststoffhocker und war sich bewußt, jetzt als Zaungast entweder die Wiedergeburt des großen Linden zu erleben oder den völligen Zusammenbruch.
So sehr er sich anstrengte, das letztere zu wünschen, fand er dazu doch nicht die rechte Einstellung. Der andere Gedanke, Linden möge aus diesem Kampf gegen Gott und Teufel als Sieger hervorgehen, war stärker. Ein Krankenpfleger hatte ihm eine Flasche Cognac gebracht. Aus einem mit einem großen goldenen N verzierten Schwenker trank Brosius in kleinen Schlucken und spürte, wie gut ihm dies tat.
Wieviel Unwahres wird über den Alkohol geschrieben, dachte er dabei. Er hatte die Mehrzahl seiner bisherigen Lebensjahre nur in Gesellschaft von Trinkern, Delirium-tremens-Kranken und Halluzinations-Psychopathen zugebracht, er hatte erlebt, wie der Alkohol einen Körper völlig zerstören konnte, wie aus einem Menschen ein reißendes Tier wurde, und immer hatte er mit einem leisen Schaudern die engen Grenzen betrachtet, die zwischen glückhafter Erholung und entnervender Rauschfülle lagen.
Es gibt nichts Erholsameres als ein Glas Alkohol, dachte Brosius. Man sieht es jetzt an mir … ich beruhige mich durch einen Cognac. Und heute abend werde ich Sekt trinken und fröhlich sein und – na ja – einen Schwips bekommen und neue Jugendlichkeit in mir entdecken. Eine frohe Stunde ohne ein gefülltes Glas – gibt es etwas Faderes? Was wäre der Abschluß eines arbeitsreichen Tages ohne eine Flasche Bier zum Abendessen, zum Fernsehen, zur Lektüre der Zeitung? Und ein sonntäglicher Frühschoppen? Ist er einem nicht zu gönnen? Spiegelt sich nicht Lebensfreude in einem lauten ›Prost‹?
Ich sollte einen großen Artikel schreiben, dachte Brosius und goß sich in sein N-Glas nach. Man schüttet, wie so oft, auch hier das Kind mit dem Bade aus. Ein Trinker ist etwas ganz anderes. Er ist ein Kranker, ein Außenstehender, ein Geisteskranker, wie man heute überzeugt ist. Trinker werden geboren, so wie Krüppel geboren werden. Zum
Weitere Kostenlose Bücher