Prophezeiung der Seraphim
der Luft, dann fanden seine Füße den unteren Rand der Kaminöffnung. Sein Herz pochte heftig, doch er wusste, dass es keinen Ausweg gab: Er musste hinauf.
»Du verkeilst dich mit Schultern und Ellbogen«, sagte Givret. »Dann schiebst du dich langsam nach oben. Mach die Rußplacken von den Wänden los und lass sie herunterfallen.«
Unter großer Anstrengung gelang es Ruben, sich langsam in den Schacht zu schieben und mit dem Rücken gegen die Wand zu stemmen. Sogleich wurde es noch dunkler um ihn. Es war so wenig Platz, dass seine Knie beinahe an sein Kinn stießen. Er atmete schnell und flach und rührte sich nicht, bis Givret ihm zubrüllte, er solle gefälligst seinen Arsch bewegen.
Mit den Füßen schob er sich ein Stück nach oben. Sofort löste sich Ruß von den Wänden und erfüllte die Luft, drang durch die Kapuze in seine Augen und in seine Lunge. Ruben musste husten und wäre beinahe abgestürzt. Doch er zwang die aufsteigende Panik nieder, fuhr mit der Raspel die Wände um sich herum ab und arbeitete sich Stück für Stück nach oben. Das Geräusch, wenn das Metall über die Wände schrappte, verursachte ihm eine Gänsehaut. Ruß brannte in seinen Augen, also schloss er sie. Er spürte, wie sich unter der Raspel Verkrustungen lösten und fast lautlos in die Finsternis hinabfielen. Weitermachen, befahl er sich, obwohl alles in ihm nach Luft und Licht schrie.
Inzwischen quälte ihn die Hitze, die noch in den Mauern steckte, weil man das Feuer erst vor Kurzem gelöscht hatte. Am Rücken ging es, weil er Hemd und Weste trug, aber seine nackten Füße wurden von dem heißen Stein versengt. Halb bewusstlos arbeitete er sich weiter aufwärts. Es dauerte eine Ewigkeit, alle Backsteine abzukratzen, doch allmählich wurde es besser: Ein kühler Lufthauch zog von oben herab, die Steine wurden kühler, und als er die Kapuze lüpfte und nach oben blickte, sah er dort einen viereckigen Ausschnitt trüben Lichts. Er hatte es fast geschafft! Endlich erreichte er den oberen Rand des Kamins und streckte den Daumen hinaus, wie man ihm befohlen hatte.
»In Ordnung. Runter mit dir, du Faulpelz«, hörte er Didiers Stimme. Sehen konnte Ruben ihn nicht, weil der Schornstein überdacht war.
»Ich lebe noch«, murmelte er verwundert und sog die Luft ein, als wäre sie Quellwasser. Ihm graute vor dem Weg zurück, doch was blieb ihm anderes übrig? Von tief unten hörte er Givret nach ihm rufen.
Abwärts ging es schneller, weil er die Wände nicht mehr abtasten musste, und auch der Kohlenstaub hatte sich etwas gelegt. Er hatte gerade die heiße Zone überwunden, als er plötzlich nicht mehr konnte. Alle Kraft hatte ihn verlassen und seine Beine zitterten so stark, dass er er sie nicht mehr von der Wand lösen konnte. Endlose Minuten verstrichen. Er hörte Givret schimpfen, lauter jetzt, und nun war er sogar froh darüber, dass unten jemand auf ihn wartete. Er wusste nicht wie, aber er schaffte es. Den letzten Meter ließ er sich fallen und plumpste in die Asche wie ein Ei ins Nest. Sofort wurde er am Kragen gepackt und hochgerissen.
»Du Tagedieb! Glaubst du, wir haben nichts anderes zu tun?«, schrie Givret und schüttelte ihn, dass ihm die Zähne klapperten.
Ruben hustete und versuchte, zu Atem zu kommen, während der Meister ihn immer wieder auf den Kopf schlug. Plötzlich ergriff Ruben maßlose Wut. Wieso musste er sich diese Behandlung gefallen lassen? Doch gegen den vierschrötigen Meister kam er nicht an. Noch nicht.
Endlich ließ Givret von ihm ab, doch nur, um mit den Worten »He, was hast du denn da?« blitzschnell nach dem Anhänger zu greifen, der aus Rubens Hemd gerutscht war. Der Meister zerrte ihm die Kordel über den Kopf und betrachtete das Schmuckstück mit zusammengekniffenen Augen. »Woher hat ein Hungerleider wie du so was?«
»Gebt es mir wieder!«, rief Ruben. Er streckte die Hand aus, mit der anderen wischte er das Blut ab, das ihm aus der Nase tropfte.
Aber Givret knurrte nur: »Ein Dieb bist du also, du kleiner Scheißer.« Dann steckte er den Anhänger in die Jackentasche und schubste Ruben wieder in Richtung Kamin. »Los jetzt, kehr die Asche auf, füll sie in den Sack und komm dann mit. Wir haben noch viel zu tun.«
Ruben taumelte hinter Givret her, hustend und mit verklebten Augen. Sein Kopf dröhnte von den Schlägen. Er hätte seinen Meister am liebsten umgebracht, aber er konnte nichts ausrichten – der Anhänger war fort. Bestimmt würde Givret ihn gegen eine Kanne Wein eintauschen.
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