Prophezeiung der Seraphim
änderte sich auch nach Henris Genesung nichts.
Aber für Ruben änderte sich etwas: Henri erzählte nach der Sonntagsschule anderen Kaminkehrerburschen, dass er sein Leben Rubens Heilkräften zu verdanken hatte. In kürzester Zeit sprach sich herum, dass er Verletzungen behandeln konnte. Der erste Junge, der an einem Sonntag nach dem Gottesdienst auf dem Kirchplatz zu ihm kam, war ein dürrer, kleiner Bursche von ungefähr acht Jahren. Er streckte Ruben seinen verbrannten Arm entgegen und sagte: »Es tut so weh!«
»Jetzt werdet ihr staunen!«, verkündete Henri den umstehenden Burschen, die die Hälse reckten. Ruben war es nicht unangenehm, so im Mittelpunkt zu stehen. Er genoss die Aufmerksamkeit, die ihn aus der Masse der Kaminkehrerburschen heraushob und zu etwas Besonderem machte. Nun hielt er seine Hand dicht über die großflächige Wunde am Unterarm des Kleinen. Kurz bekam er Angst: Was, wenn es diesmal nicht gelang? Doch da spürte er schon den Sog, mit dem seine Lebenskraft auf den Körper des anderen Jungen überzugehen schien. Erneut verspürte er das Ziehen, und ihm wurde kalt. Doch nach einigen Minuten kehrte die Wärme in seinen Körper zurück. Und als er die Hand wegnahm, hatte sich eine dünne, rosafarbene Hautschicht dort gebildet, wo vorher eine offene Wunde gewesen war. Der Kleine sah erst ungläubig, dann breit grinsend zu Ruben auf. Er konnte sich kaum bedanken, da drängten sich alle anderen um den Geheilten und bestaunten das Wunder.
Henri stieß Ruben den Ellbogen in die Seite. »Wie stellst du das nur an? Fängst du bald an, Wasser in Wein zu verwandeln?«
»Red nicht so, das ist Sünde«, erwiderte Ruben. »Ich kann das eben, ist einfach so.« Doch insgeheim fragte auch er sich, woher diese Gabe stammte.
Nach und nach kamen immer mehr Jungen, um die Schnitte, Prellungen und Abschürfungen, die sie sich bei der Arbeit häufig zuzogen, heilen zu lassen. Ihre Dankbarkeit erfüllte Ruben mit einem Gefühl der Zufriedenheit, das er bisher nur verspürt hatte, wenn er seinen Tieren half. Doch drei Wochen nach Henris Genesung geschah etwas Beunruhigendes. Wieder einmal bat ein Junge, es war Jean, der ebenfalls die Sonntagsschule besuchte, um Rubens Hilfe. Er trug den rechten Arm in einer Schlinge aus schmutzigen Lappen und berichtete, sein Meister habe ihm diesen gebrochen. Als Henri ihm die Schlinge abstreifte und der blau verfärbte und geschwollene Arm zum Vorschein kam, schrie Jean unterdrückt auf.
»Keine Sorge, er bringt dich im Nu wieder in Ordnung«, sagte Henri.
Ruben nahm vorsichtig den Arm zwischen seine Handflächen und schloss die Augen. Er fühlte den bereits vertrauten Sog, und als die Wärme in seine Finger zurückkehrte, sah der Arm weniger dick aus, und die Haut hatte eine normale Farbe angenommen. Doch dann sagte Jean, er habe zwar weniger Schmerzen, der Arm selbst ließ sich jedoch nicht bewegen und war immer noch seltsam verdreht.
Ruben war beunruhigt. Verschwand seine neue Fähigkeit etwa wieder, sodass er bald nur noch genug Kraft haben würde, um kleine Tiere zu heilen? Hatte er sie zu häufig benutzt?
»Mehr kann ich nicht tun. Geh damit zu den Guten Schwestern«, sagte er so selbstsicher wie möglich. »Das muss noch geschient werden, sonst wirst du zum Krüppel.« Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie verwirrt er war.
Henri schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, er drängte sich nach vorne und verkündete: »Wir müssen jetzt los.« Dann bahnte er für Ruben einen Weg durch die Jungen, die bereitwillig eine Gasse bildeten. Ruben hielt den Kopf gesenkt, während er an ihnen vorüberging. Der Vorfall brachte ihn dazu, über seine Heilkräfte nachzudenken. Bisher hatte er sie als selbstverständlich akzeptiert, doch offensichtlich waren sie nicht unerschöpflich – woher sie auch kamen, er musste sorgsam mit ihnen umgehen.
3
Paris, Juli 1789
J ulie saß auf der Steinbank neben dem Uhrmacherladen und las in Voltaires Roman Candide . Ihr Vater hatte ihr das Buch am Vortag gegeben und gesagt, er wolle sich abends mit ihr darüber unter halten. Doch nun wurde ihre Aufmerksamkeit von wütendem Geschrei beansprucht, das sich ein Stück die Straße hinunter er hob. Eine bor deauxrot lackierte Kutsche ratterte so schnell durch die Rue Mouffetard, dass die Leute Mühe hatten, sich in Sicherheit zu bringen. Während der Kutscher mit der Zunge schnalzte, um das Vierergespann anzutreiben, blickten die beiden Lakaien auf dem hinteren Tritt hochmütig
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