Psychologische Homöopathie
sagte sie, sie tue es aus Liebe, und sie glaubte selbst daran. Bei näherer Betrachtung wurde ihr jedoch genauso klar wie mir, daß sie ihrem Sohn etwas gab, weil sie ihn brauchte. In diesem Fall spielte zwar auch Liebe eine Rolle, aber das war nicht der Grund für ihr zwanghaftes Geben. Nicht Liebe, sondern Bedürftigkeit läßt einen Menschen zwanghaft handeln.
Genauso wie sie ständig versucht, anderen zu helfen, setzt Natrium sich selbst herab und weist Komplimente zurück. Das tut sie, weil sie tief in ihrem Inneren nicht viel von sich hält (Kent: »setzt sich selbst zurück«, »Scham«), da sie als Kind nicht genug Liebe bekommen hat. Selbst ein relativ offener Natrium-Mensch, der anscheinend liebevolle Eltern hatte, neigt dazu, sich selbst herabzusetzen, und fühlt sich schuldig, wenn er »selbstsüchtig« ist. Das liegt daran, daß seine Eltern genauso bedürftig waren wie ihr Kind und deshalb nicht bedingungslos lieben konnten.
Vor allem Natrium-Frauen setzen sich selbst mit tausend Kleinigkeiten herab. Oft denken sie, sie hätten anderen Menschen schreckliche Dinge angetan,was gar nicht stimmt. Weil sie das aber meinen, entschuldigen sie sich ständig: »Bin ich nicht furchtbar?«, »Bin ich nicht albern?« und »Es tut mir leid, daß ich eine solche Nervensäge bin!« sind typische Aussagen, mit denen sie sich selbst abwerten. Und natürlich gibt es immer Leute, die diese Haltung bestärken. An erster Stelle sind das die Eltern, die das Kind selbstsüchtig nennen, wenn es nicht gehorcht, oder schlimmer noch, die es als unnütz oder dumm abqualifizieren. (Eine sanftere Art besteht darin, das Kind als »albern« zu bezeichnen, aber wenn das oft genug geschieht, hat es denselben Effekt, als würde man das Kind »dumm« nennen.) Dann sind da die Brüder, die selbstsüchtiger sein dürfen als die Schwestern und die die Mädchen ebenfalls herabsetzen. Und schließlich ist da der Ehemann, der irgendwann die Rolle der Eltern übernimmt und die Frau entweder offen und bewußt abwertet oder dasselbe auf eine subtile väterliche oder scherzhafte Weise erreicht. Selbst die Natrium-Frauen, die das Glück haben, von ihren Freunden und der Familie unterstützt zu werden und Widerspruch zu ernten, wenn sie sich selbst heruntermachen, sind nicht davon zu überzeugen, daß sie gute Menschen sind. Auch die schönsten Komplimente können den Schaden nicht wiedergutmachen, der in den frühen Jahren entstanden ist, als das Kind sich der Liebe nicht wert fühlte. Dennoch ist die Macht der Liebe sehr heilsarn, wenn Natrium sich dafür erst einmal geöffnet hat. Viele Natrium-Menschen entwickeln dann doch allmählich Selbstachtung und Selbstliebe, teilweise indem sie sich erlauben, den inneren Schmerz zu fühlen, und teilweise, indem sie ihn durch Liebe neutralisieren.
Natrium-Menschen sind oft sehr stoisch. Sie denken, Selbstverleugnung sei gut für ihre Seele, und meinen, dadurch würden sie stark und selbstlos. Die Mutter, die für alle und jeden kocht, sich aber selbst nicht zum Essen mit an den Tisch setzt, ist gewöhnlich Natrium. Der Sozialarbeiter, der sich in seiner Arbeit so engagiert, daß er dafür auf Freizeit verzichtet, ist gewöhnlich Natrium (Sozialarbeit zieht Natrium an wie Licht die Motten). Eigentlich sind Märtyrer aller Art gewöhnlich Natrium muriaticum, gleichgültig was ihre bewußte Mativation ist. (Einige wenige Märtyrer sind Phosphor, Staphisagria oder Natrium carbonicum, aber das kommt vergleichsweise selten vor.)
Wenn die emotionale Pathologie von Natrium schwerwiegend ist, schlägt die Selbstverleugnung in Selbstzerstörung um. Der Mann, der 18 Stunden am Tag arbeitet, sieben Tage in der Woche, ist gewöhnlich Natrium. Er hat nicht das Gefühl, viel wert zu sein, und solange er beschäftigt ist, und zwar vorzugsweise produktiv, fühlt er sich innerlich nicht so unglücklich. Natürlich bringt dieser Selbstmißbrauch ihn schließlich um. Die Alkoholiker undDrogensüchtigen, die ihren Schmerzen zu entkommen versuchen, bringen sich ebenfalls um, genauso wie Menschen mit Anorexie oder Bulimie. Sie alle sind häufiger Natrium als irgendein anderer Konstitutionstyp. Die Prostituierte, die aus wirtschaftlichen Gründen auf die Straße geht, hat ihre Selbstachtung schon lange vorher verloren, und es ist ihr jetzt schon fast gleichgültig, ob sie weiterlebt oder an Aids stirbt. In diesem Zustand ist der Tod für die meisten Natrium-Menschen nicht sehr bedrohlich, sondern eher eine tröstliche
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