Psychologische Homöopathie
und dem Lycopodium-Alleswisser unterscheiden, der auch mit jedem spricht, weil er mit seinen Kenntnissen angeben will. Letzterer ist viel gehemmter und eher beleidigt, wenn er Ablehnung oder Widerspruch erfährt. Sulfur nimmt das philosophischer, genießt die Auseinandersetzung, wenn das Publikum nicht seiner Meinung ist, und geht gelassen seiner Wege, wenn die Zuhörer das Interesse verlieren. Er kann jedoch genauso ermüdend sein wie der Lycopodium-Alleswisser, weil er sich von seinem Lieblingsthema davontragen läßt und endlos redet, wobei er die Höflichkeit der Zuhörer als Interesse mißdeutet.
Ein anderer geselliger Typ, den man mit Sulfur verwechseln kann, ist der Natrium-Mann, der ziemlich viel Selbstvertrauen hat, aber Wert darauf legt, daß ihn jeder mag. Er ist extrem höflich, redet aber selbst völlig Fremdeunaufgefordert mit ihrem Vornamen an, auch seinen Arzt und den Bankdirektor. Er redet geschliffen über fast alles, aber hinter dem, was er sagt, steckt kein echtes Gefühl. Es ist alles nur Schau, um die Leute zu beeindrucken. Im Gegensatz dazu kümmern sich die meisten Sulfurs nicht darum, ob sie andere Leute beeindrucken oder nicht. Sie sind zu sehr am Gesprächsthema interessiert und genießen es viel zu sehr, ihre Wärme und Begeisterung mit anderen zu teilen. Es gibt natürlich Ausnahmen – gemeine oder asoziale Sulfurs, arrogante oder sogar furchtsame Sulfurs, aber solche Ausnahmen bestätigen nur die Regel.
Shakespeares Falstaff ist ein klassisches Beispiel für einen in jeder Hinsicht überlebensgroßen Sulfur. Obwohl er nur eine phantastische Fiktion ist, fällt es einem nicht schwer, eine Beziehung zu ihm zu finden, weil er der wirklichen Essenz von Sulfur so genau entspricht. Falstaff ist voller Widersprüche, deren er sich überwiegend auch bewußt ist, und das macht ihn noch amüsanter. Er ist ein Ritter – Sir John Falstaff –, aber er hat kein Geld und verbringt seine Zeit mit gemeinen Dieben in der Kneipe. Er ist ein unverbesserlicher Lügner, aber die Ehre bedeutet ihm viel, und er glaubt echt daran, zumindest manchmal. Er ist intelligent, belesen und witzig, läßt sich aber mit Narren ein und verbringt die meiste Zeit damit, zu essen, zu trinken und den Frauen nachzustellen. Trotz seines frivolen Verhaltens bewahrt sich Falstaff eine gewisse Würde. Wie viele Sulfurs ist er zu verantwortungslos und zu verspielt, um ein akzeptables, »produktives« Mitglied der Gesellschaft zu sein, aber sein Witz, seine hervorragende Erzählkunst und seine naive Selbstakzeptanz sorgen dafür, daß er nicht nur geduldet, sondern geliebt wird. Die meisten seiner Lügen sollen die Leute eher unterhalten als täuschen, und in echter Sulfur-Manier sind sie ebenso sorgfältig durchdacht wie unglaublich. Sulfur neigt zu Übertreibungen, weil er viele Dinge aufregend findet und gerne die dramatischeren Aspekte eines Themas betont, manchmal bis zu dem Punkt, wo er den Kontakt mit der Realität verliert.
Sulfur lügt auch, wenn er in die Enge getrieben wird oder um sein Gesicht zu wahren. Wie Lycopodium und Phosphor ist er ein Opportunist und biegt oder bricht die Regeln des akzeptierten Verhaltens, damit niemand seine Schwächen bemerkt oder um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dabei beruft er sich oft auf ziemlich großartige Motive, um seine wahren Beweggründe zu verschleiern, was sowohl seinem Stolz als auch seiner Neigung, ein bestimmtes Thema »aufzuwerten«, entspricht. Als Falstaff von Prinz Hal gefragt wird, warum er geflohen sei, als der verkleidete Prinz ihn während eines nächtlichen Streichs angegriffen habe, erklärt er, er habe den Prinzen erkannt und ihndeshalb seinerseits nicht angreifen können, denn »der Löwe greift niemals den Kronprinzen an«. Auf diese Weise stellt er seine Feigheit als Tapferkeit dar. Auf einer prosaischeren Ebene rechtfertigt Sulfur oft Faulheit und Pflichtvergessenheit, indem er behauptet, er sei mit wichtigeren Dingen beschäftigt, was in der Regel bedeutet, daß er seinen Lieblingsinteressen nachgeht.
Die meisten Sulfurs reden gerne. Einige sind hochintellektuell und sprechen nur mit wenigen Leuten, von denen sie annehmen, daß sie ihre Theorien und Beobachtungen verstehen, aber viele reden auch mit jedem über alles. Sulfur hat im allgemeinen wesentlich umfassendere Interessen als die meisten Leute und weiß gewöhnlich genug, um sich über viele Themen intelligent zu unterhalten. Das gilt sogar für den provinziellen Sulfur, der keine formale
Weitere Kostenlose Bücher