Gefährliche Intrigen
Prolog
England, Grafschaft Norfolk, April 1729
Der Waldboden verströmte einen angenehm moosigen Duft. Die Nacht war sternenklar, und der strahlende Vollmond tauchte die Hügelkuppe in ein silbernes Licht. Nur wenige Meter vor ihr trat langsam und vorsichtig ein Rehkitz aus dem Wald. Die Nase in den Wind haltend, witterte es, ob Gefahr drohte.
Emma drückte sich noch flacher auf den weichen Waldboden. Seit sie vor ein paar Tagen das Jungtier zufällig entdeckt hatte, wartete sie auf eine Gelegenheit wie diese. Sie wollte es unbedingt aus der Nähe sehen. Mit seinen dünnen, staksigen Beinen wirkte das scheue Wesen auf Emma unglaublich verletzlich. Emma liebte alle Tiere, doch diese Bewohner des Waldes hatten es ihr besonders angetan. Schon als Kind war sie, wann immer sie ihrer Amme entwischen konnte, durch den großzügig angelegten Garten ihrer Eltern gerannt, um dann an der Grundstücksgrenze unbemerkt über die Sandsteinmauer zu klettern. Schon direkt hinter der Mauer überkam sie das Gefühl, in einer wunderbar fremden und abenteuerlichen Welt gelandet zu sein, umgeben von majestätisch hohen Bäumen. Bei diesen Ausflügen in den Wald ihres Vaters verging die Zeit wie im Flug. Immer wieder musste sie sich daher die lautstarken Schimpfereien ihrer Amme anhören und die Strafpredigten ihrer Eltern über sich ergehen lassen. Trotzdem wusste sie, dass sie wieder genauso handeln würde, sobald sich ihr die Gelegenheit böte.
Emmas Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und die friedliche Szene vor ihr gab ihr das Gefühl, die Zeit würde stillstehen.
Wie lange sie so da gelegen hatte, konnte Emma nicht sagen, doch mit einem Mal veränderte sich etwas. Die Rehe vor ihr hoben die Köpfe und horchten. Unruhe breitete sich unter den Tieren aus. Emma kroch langsam einige Meter zurück. Vielleicht hatten die Tiere sie bemerkt. Die Angst der Tiere wurde stärker, panisch flüchteten die Rehe zurück ins dichte Unterholz. Emma war etwas enttäuscht und machte sich Vorwürfe, diese wunderbaren Geschöpfe so erschreckt zu haben. Das nächste Mal würde sie noch vorsichtiger sein. Langsam erhob sie sich, um nach Hause zurückzukehren. Da erkannte sie mit Schrecken, was der wirkliche Grund für die Flucht der Tiere war: Der Himmel brannte! Orangerote Flammen züngelten um ihr Elternhaus. Schwarzer Rauch stieg in dichten Schwaden in den Himmel. Jetzt konnte sie das Feuer auch riechen: Beißend und heiß brannte der Qualm in ihrem Hals und ihren Augen. Endlich erwachte Emma aus ihrer angstvollen Starren und rannte so schnell sie konnte auf das brennende Haus zu. Oh Gott! Lieber Gott, bitte! Ihr Herz raste. Ihre Familie hatte doch bereits geschlafen. Hoffentlich war ihnen nichts passiert, hoffentlich hatten sie sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht!
Sie rannte weiter. Merkte nicht, dass sie mehrfach strauchelte und auf den harten Boden fiel. Immer wieder rappelte sie sich auf und rannte weiter. Der Rauch wurde dichter, und je näher sie kam, umso heißer wurde die Luft. Mit einem kraftvollen Satz sprang sie über die Gartenmauer. Das Haus brannte lichterloh. Aufgeregte Menschen liefen umher, Nachbarn, die vergeblich versuchten, die Flammen zu bekämpfen. Wo waren ihre Eltern? Mit brüchiger Stimme rief Emma nach ihnen und rannte auf die Flammen zu. Plötzlich wurde sie von hinten gepackt. Starke Arme zogen sie vom Haus weg. Emma wehrte sich mit aller Kraft, sie strampelte mit den Beinen, schlug wild um sich und schrie:
»Nein! Meine Eltern sind noch da drin!«
Sie riss sich los und rannte erneut in Richtung der Feuersbrunst.
»Verflucht! Kind!«
Der Mann packte sie und warf sie sich über die Schultern.
»Wir müssen hier weg! Es stürzt gleich alles ein!«
Als hätte er es heraufbeschworen, konnte nun auch Emma die schrecklichen Laute hören. Das Dachgebälk knarzte und krachte in den Flammen, und nur wenige Augenblicke später stürzte es mit donnerndem Getöse in sich zusammen. Was von den Mauern noch gestanden hatte, wurde unter den brennenden Balken begraben. Glühende Trümmer flogen durch die Luft und die Helfer suchten Deckung, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Emma, die ein gutes Stück entfernt der Obhut des Priesters übergeben worden war, versengte die heiße Luft beinahe die Haut.
Der Schock dieser Nacht forderte nun von Emma ihren Tribut. Die schreckliche Angst wurde nun zur Gewissheit: Ihre Eltern waren tot. Sie hatte alles verloren, was ihr jemals etwas bedeutet hatte.
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