Psychologische Homöopathie
jungenhaft wirkte und auch eine Menge Charisma hatte, aber schließlich dämmerte mir, daß er zu aggressiv und zu »hungrig« war, um Phosphor zu sein. Mit »hungrig« meine ich das rastlose Verlangen nach mehr Erfahrungen und die Ungeduld, wenn er warten mußte. Außerdem suchte dieser Mann nicht auf dieselbe Weise wie Phosphor die intime Nähe zu anderen Menschen. Beispielsweise war ihm die Dynamik einer Gruppensituation lieber als die individuelle Arbeit mit einzelnen Teilnehmern. Schließlich sprachen wir über die Homöopathie, und er sagte, er halte sich für Phosphor. Ich sagte, ich sei anderer Meinung, und er ließ mich seinen Fall aufnehmen, wobei sich bestätigte, daß er ein rastloser, hungriger Tuberculinum war, der zu Asthma neigte, und kein verträumter, naiver Phosphor. Ich empfinde Tuberculinum als eine Art Kreuzung zwischen Phosphor und Nux vomica mit der Leichtigkeit und romantischen Sensibilität des ersteren und den scharfen, getriebenen Eigenschaften des letzteren.
Ich kannte einmal einen anderen Tuberculinum-Psychotherapeuten, der sich von dem gerade beschriebenen deutlich unterschied. Er war erheblich älter, etwa um die Fünfzig, aber er wirkte ebenfalls so jungenhaft und spritzig, wie es für Tuberculinum typisch ist. Im Laufe der Jahre gereift, war er entspannter und optimistischer als sein jüngerer Kollege. Er hatte sich eine idyllische Existenz geschaffen, in der fast alles, was er tat, ein Vergnügen war. Er lebte in einem schönen Haus auf einem Hügel mit Blick auf das Meer, in der Nähe der Stadt, wo er arbeitete und Kurse gab. Er war alleinstehend und hatte offenbar eine attraktive Freundin nach der anderen, die bei ihm wohntenund das Bett mit ihm teilten. Bei der Arbeit war er weitaus geduldiger als sein jüngerer Kollege und mehr an Einzelsitzungen interessiert. Sein spezieller Stil war der passi vste, den ich je bei einem Therapeuten erlebt habe. Zu seinen grundlegenden Techniken gehörte es, alles zu spiegeln, was der Klient sagte, einschließlich des Tonfalls und der Körperhaltung. Er bestand darauf, die Aufgabe des Therapeuten bestehe allein darin, den Klienten zu spiegeln, und der Klient werde den Rest dann selbst erledigen.
Das erinnert mich an den Tuberculinum-Rebirther, der die Meinung vertrat, seine Klienten müßten ihre emotionalen Probleme nur in Glückseligkeit auflösen, um sie zu überwinden. Beide Therapeuten hatten eine lockere, entspannte Einstellung zu ihrer Arbeit, die es ihnen ermöglichte, viel von dem Schmerz und dem Häßlichen zu vermeiden, die auftreten, wenn man die Klienten herausfordert und sie zwingt, ihren tieferen Gefühlen von Traurigkeit und Verzweiflung ins Gesicht zu sehen. In echter Tuberculinum-Manier wählte der ältere Therapeut einen distanzierteren Ansatz, der ihn befähigte, vielen Menschen zu helfen, ohne sich die Hände allzu schmutzig zu machen. Eines Abends sprach er mit einer Gruppe von Kursteilnehmern und erklärte, er habe alles, was er sich im Leben wünschen könne, und sei immer noch unzufrieden. Er sagte, er sei frustriert, weil er nicht genug Zeit habe, um all das zu tun, was er tun wollte. Das ist das Schicksal sogar des reifsten und zufriedensten Tuberculinum-Menschen.
Das obige Beispiel illustriert Tuberculinums Tendenz, seine angeborene Intelligenz zu nutzen, um das süße Leben zu genießen. Natürlich gibt es bei allen Konstitutionstypen viele Menschen, die sich ein leichteres und anregenderes Leben wünschen, aber nach meiner Erfahrung hat Tuberculinum dabei mehr Erfolg als die meisten, denn er widmet sich diesem Ziel voller Hingabe, hat keine besonderen Skrupel im Hinblick auf die Familie oder andere Verpflichtungen, und er ist im allgemeinen sehr unternehmungslustig.
Die Tuberculinum-Frau
Ich habe die Tuberculinum-Frau bisher nicht ausdrücklich erwähnt, obwohl alles, was ich geschrieben habe, auch auf sie zutrifft. Tuberculinum-Frauen sind relativ selten, und der Homöopath bekommt sie nicht oft zu Gesicht, was teilweise vermutlich damit zu tun hat, daß Tuberculinum wie Sulfur körperlich meist ziemlich robust ist. Die wenigen Tuberculinum-Frauen, die ich behandelt habe, waren relativanmaßend und maskulin. Eine war Ärztin, interessierte sich aber weitaus mehr für Windsurfing als für Medizin und wardeshalb von England nach Australien gezogen. Sie erzählte mir, daß sie es an den meisten Tagen nicht erwarten könne, mit der Arbeit fertig zu werden, damit sie surfen oder auf eine der zahllosen Partys gehen
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