Psychologische Homöopathie
aber genauso das »existenzielle Dilernma« oder das Gefühl der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit, das sich so oft hinter der Rastlosigkeit von Tuberculinum verbirgt. Die Franzosen neigen auch zum Individualismus. Mehr als die meisten anderen Leute tun sie, was ihnen paßt, und gestehen das auch anderen zu. Dank dieser ausgeprägt individualistischen Tendenz trat Frankreich während des kalten Kriegs nicht der Nato bei, obwohl es über Atomwaffen verfügte und ein Teil von Westeuropa war. Tuberculinum-Menschen sind sehr stark sie selbst. Wie Sulfur und Nux gehen sie ihren eigenen Lebensweg und nehmen wenig Rücksicht auf die gesellschaftlichen Erwartungen. Anders als Sulfur und Nux sind sie jedoch keine geborenen Anführer, denn sie lieben ihre Freiheit zu sehr, um die Verantwortung auf sich zu nehmen, die mit Führungsaufgaben verbunden ist, und es fehlt ihnen dazu auch an der nötigen Disziplin.
Ein englischer Schriftsteller, dessen Werk den kultivierten, modernen Stil von Tuberculinum sehr gut darstellt, ist Aldous Huxley. Die Gestalten seiner frühen Romane sind oft sehr clever, aber es fehlt ihnen an Tiefe. Sie treiben in einer hochintelligenten Elite dahin, spielen miteinander, wetteifern um das höchste Maß an Kultiviertheit und finden nur phasenweise die Befriedigung, nach der sie suchen. In seinen späteren Romanen ist Huxley wesentlich spiritueller, nachdem er die Philosophie der mystischen Traditionen übernommen hat. Sein Buch Schöne neue Welt kann man als Tuberculinums Vorstellung von der Leere des materiellen Fortschritts ohne emotionale und spirituelle Befriedigung interpretieren. Die Bewohner seiner Zukunftswelt haben alle materiellen Anregungen, die man sich nur wünschen kann, einschließlich wochenlanger übersinnlicher Ferien unter dem Einfluß von Drogen, aber sie haben ihre Seele verloren. Huxley selbst suchte Freiheit durch den experimentellen Gebrauch von halluzinogenen Drogen, und sein Buch Die Pforten der Wahrnehmung war eine Art Handbuch für Menschen, die eine drogeninduzierte Bewußtseinserweiterung anstrebten. Selbst in seinen späteren Jahren der spirituellen Suche entschied er sich oft für eine Abkürzung des Weges, indem er chemische Halluzinogene benutzte, um seine Visionen zu intensivieren, genau wie jene Tuberculinum-Menschen, die zu ungeduldig sind, um ihr Bedürfnis nach Stille auf natürliche Weise zu befriedigen.
Das Kätzchen
Der Bohemien hat etwas Katzenartiges, was mir bei Tuberculinum-Mensehen sehr oft aufgefallen ist. Wie eine Katze ist Tuberculinum sinnlich, aber distanziert. (Die einzige berühmte Persönlichkeit, die wahrscheinlich Tuberculinum ist und diese Eigenschaft anschaulich illustriert, ist der Schauspieler David Niven.) Er verliert sich sehr leicht in eine sinnliche Ekstase, denn er hat keine der Hemmungen, die für Natrium und Kalium charakteristisch sind, aber während andere ekstatische Typen wie Phosphor und Medorrhinum vollständig in dieser Erfahrung aufgehen, bewahrt sich Tuberculinum sogar in der höchsten Ekstase eine gewisse Distanz. Wie Nux ist er wachsam und kann im Nu auf den Beinen sein, ähnlich wie ein Kätzchen, das schnurrt, wenn es gekrault wird, und eine Sekunde später auf und davon ist, wenn es aus den Augenwinkeln eine Maus sieht. Tuberculinum kann schnell sein wie Nux vomica. Beide sind magere, hungrige Typen, die prinzipiell gut für sich selbst sorgen können und sowohl körperlich als auch geistig schnell reagieren. Es gibt zwar zahllose Unterschiede zwischen ihnen, aber bei oberflächlicher Betrachtung kann man die beiden leicht verwechseln. Nux ist zielstrebig und geht entschlossen seinen Weg, bis er seine Ziele erreicht hat, wozu gewöhnlich gehört, daß er auf die eine oder andere Weise Macht erlangt. Tuberculinum ist in seinen Bemühungen weitaus unbeständiger, verspielter und viel romantischer als Nux. Es gibt viele Tuberculinum-Dichter, aber nur wenige Nux-Dichter. Gleichwohl haben beide ein rasches Auffassungsvermögen, sie sind körperlich meist beweglich, und ihre Lebenseinstellung ist distanziert und relativ selbstbezogen.
Wie viele Katzen sind Tuberculinum-Menschen meist freundlich und gleichzeitig reserviert. Wenn sie jemanden interessant finden (entweder intellektuell oder sexuell), sind sie heiter und angeregt und strahlen eine Selbstsicherheit aus, die nicht leicht zu beeinträchtigen ist. Es kann jedoch verwirrend sein festzustellen, wie schnell Tuberculinums Interesse manchmal nachläßt und wie plötzlich er
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