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Psychotherapeuten im Visier

Psychotherapeuten im Visier

Titel: Psychotherapeuten im Visier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Reiners
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eine Alternative in der Behandlung verfügen würden. Der Depressive wird selbst über sehr viel differenziertere als den bisher angebotenen Testverfahren feststellen können, ob er therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen sollte. Die bisherigen Testverfahren gleichen einer Aalreuse, aus der ein gefangener Fisch nicht wieder zurück in die Freiheit finden kann.
    Der an den neuen Verfahren Interessierte kann es dann zuerst einmal mit einer internetgestützten, also anonymen Therapieform versuchen. Die Übergänge von traditioneller und elektronisch erfolgter Therapie werden fließend sein. Das ist für den Betroffenen ein großer Kompetenzgewinn, weil er zumindest bis zu einem gewissen Grade Herr seiner selbst bleibt und nicht langen und entwürdigenden Wartezeiten oder allein einem Therapeuten ausgeliefert ist, der zufällig gerade einen Therapieplatz anbietet.
    Der wichtigste Vorteil, den ich in dieser neuen Therapieform
sehe, ist der Autonomiestatus des Nutzers. Er ist frei von verordneten Terminen, frei von Fahrzeiten und frei von zugeteilten Intervallen, in denen er allein mit sich selbst beschäftigt ist. Er bleibt auch weiterhin, trotz der großen Einschränkungen durch die Depression, Herr seiner selbst. Er bestimmt das Tempo, er bestimmt die Inhalte und die Ziele.
    Ich nenne dieses Programm I-Face. Der deutsche Begriff Ich-Gesicht klingt ein wenig holprig, beschreibt aber dasselbe Phänomen: Wenn ich auf selbsttherapeutische Weise mit dem Internet kommuniziere, verliere ich nie das eigene Gesicht, weil ich frei von allen Hemmungen mir selbst begegnen kann. Die Therapieprogramme werden innerhalb kürzester Zeit ähnlich wie ein Schachcomputer über eine »Hirnkapazität« verfügen, die den gesamten Erfahrungsschatz eines einzelnen Therapeuten um ein Vielfaches übersteigt.
    I-Face wird aber auch dazu beitragen, dass jeder, der mit dem gesundheitlichen Problem der Depression zu tun hat, wieder in der Lage ist, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und nicht immer nur am Tropf der verordneten Therapietermine zu hängen.
    Die Behandlungserfolge in Psychiatrie und Psychologie sind im Vergleich zu den großartigen Errungenschaften bei Internisten und Chirurgen in Forschung und Anwendung kümmerlich. Die internetgestützte Therapie wird für einen gewaltigen Erkenntnisschub in der Behandlung von Depressionen sorgen. Ich gestehe freimütig, dass für mich ein Traum in Erfüllung gehen würde, wenn es endlich einen intellektuellen Tsunami in der Psychiatrie gäbe, wenn alles einmal auf den Prüfstand käme und endlich die Vernunft über die Partikularinteressen Einzelner und einer ganzen Zunft siegen würde. Es geht um Millionen Menschen allein in Deutschland.
Befreien wir sie endlich von dem Misstrauen, das sie jeden Tag begleitet, befreien wir sie von ihren Schmerzen und billigen wir ihnen als Gesellschaft endlich den Akutstatus ihrer Krankheit zu.
    Und wenn Industrie, Forschung und eine psychiatrische Kompetenz frei von Ideologien den Weg frei machen für ganz neue Forschungsansätze zum Krankheitsbild Depression, dann winkt für den Mutigen, der die Fesseln der Zunft als Erster sprengt, vielleicht sogar der Nobelpreis.
    Ein solches Szenario ist meine Vision – denn dann war auch meine Depression, die mich 20 Jahre lang in lähmendem Griff hatte, eine gute Erfahrung: Alle, die unter Depressionen leiden, werden es besser haben als ich.

Nachwort: Ein Aufruf!
    Wenn wir 1000 Menschen fragen, was ihnen spontan zu dem Wort »Krebs« einfällt, dann wird es nur zwei Antworten geben : Die Krankheit und das Krustentier – und dieses auch als Sternzeichen. Zwei Bedeutungen also, zwei eindeutige. Wenn wir aber 1000 Menschen befragen, was sie mit dem Wort »Depression« verbinden, dann werden es sehr viele, ganz unterschiedliche Bedeutungsinhalte sein: die große wirtschaftliche Depression 1929, die Depression der Wirtschaft vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der Bankenkrise, die Depression in Folge am Immobilien- und Schifffahrtsmarkt, die Depression im Kunstgeschehen, im Sport, in der Literatur – jede Form des Niedergangs oder des Abweichens von einem gewohnten Status bezeichnen wir unüberlegt und vorschnell als Depression. Und wenn uns irgendwann zum Begriff »Depression« auch noch die Krankheit einfällt, dann auch dort stets in sehr unscharfer, schwer abzugrenzender Bedeutung. Was heißt schon Winterdepression, wenn sich die Stimmung krankhaft im Oktober oder November verändert
und uns lähmt? Als

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