Psychotherapeuten im Visier
psychiatrischen Erkrankungen, von denen die Depression den mit Abstand größten Raum einnimmt und längst den Status einer Volkskrankheit innehat,
bisher keine vergleichbare Auszeichnung für Forschungsergebnisse oder besonders wirksame Behandlungsverfahren der Depression, die auch nur annähernd den Rang eines Nobelpreises haben.
Dass allerdings die »Arbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener« einen ehemaligen Postboten und Hochstapler für den Nobelpreis mit der Begründung vorgeschlagen hat, er kenne den Machtapparat der Zwangspsychiatrie von innen, kann man sowohl als zynisch-humoristischen Kommentar zur Situation der Psychiatrie insgesamt verstehen, aber auch als Appell, der in diesem Vorschlag den Finger in die ganz offensichtliche Wunde des Fachgebietes Psychiatrie legt. Eine solche Anregung sollte man in Fachkreisen durchaus wahrnehmen und diskutieren und nicht gleich als bösen Angriff rachsüchtiger Patienten abtun. Die Wahrheit liegt ja nicht nur in den heilenden Händen der Fachleute gestern und heute, sondern vielleicht auch in einem solchen Vorschlag der Vereinigung »Psychiatrie-Erfahrener«, bei denen es sehr ernst zu nehmende Menschen gibt, die seit 1933 furchtbar an äußerst suspekten psychiatrischen Behandlungsmethoden gelitten haben, während die Täter, also Psychiater, nach dem Krieg gleich wieder Karriere machten. Ich nenne stellvertretend Dorothea Buck, die die Schrecken ihrer Behandlung überlebt hat, nicht aber vergessen und die Erlebnisse überwinden kann – schon gar nicht mit einer Psychotherapie! Sie ist heute 93 Jahre alt. Ihre Arbeit als Künstlerin hat sie in dem Moment aufgegeben, als sie nach dem Krieg noch einmal durch die Presse mit dem ihr angetanen Leid konfrontiert wurde. Zitat: »… die psychiatrischen Mörder haben weiterleben und -arbeiten können«, sie aber konnte nicht mehr als Künstlerin arbeiten. »Wo es an der einfachsten Menschlichkeit fehlt, kann ich keine Kunst mehr machen.«
Mein Appell an die Psychotherapeuten ist: Nehmt die Beobachtungen, Aussagen und vor allem die Innensicht von Menschen mit psychischen Krankheiten, die sich euch anvertraut haben, ernst, sehr ernst – im Stadium der Krankheit selbst und ebenso die Erfahrungen der Genesenen. Wirklich verstehen kann eine Depression nur, wer sie auch selbst erlebt hat. An diesem hautnahen Wissen fehlt es naturgemäß den meisten Psychiatern und Psychologen.
Ich selbst musste nur zu oft erfahren, dass eine Laienmeinung, auch wenn sie sich auf 20 Jahre Depressionserfahrung stützen kann, von den vermeintlichen Fachleuten als lästig und unbequem empfunden wird. Warum diese ostentative Verschlossenheit, was gibt es zu verbergen, warum findet kein offener Dialog statt oder zumindest: zu wenig? Die Philosophen sind da sehr viel weiter, was Transparenz und interessiertes Engagement angeht. In einer öffentlichen Sitzung des deutschen Ethikrates, die sich mit dem ebenso bedrückenden wie wichtigen Thema der Demenz beschäftigte, konnten sich Demenzkranke verschiedener Stadien als eingeladene Gäste mit den philosophischen Kapazitäten austauschen, um das Phänomen Demenz auch aus Betroffenensicht zu illustrieren und vor allem zu erhellen. Es waren für mich als Zuhörer sehr anstrengende Gespräche, aber die Idee eines solchen Austausches wurde von allen als großer Gewinn betrachtet, denn Demenz ist nicht vorstellbar. Einen vergleichbaren konstruktiven Blick über den eigenen fachlichen Tellerrand wünschte ich mir auch öfter für Psychiater und Psychologen. Zu oft wollen sie sich nicht wirklich in die Karten schauen lassen. Was nur haben sie zu verbergen, frage ich noch einmal, das Eingeständnis weitgehender Hilflosigkeit im Angesicht der Depression? Komplizierteste Operationen werden bei Kongressen von Chirurgen mit Hunderten
von Teilnehmern heute live in die ganze Welt übertragen, die »ganze Welt«, also nicht nur für die engsten Kollegen, sondern auch Assistenzärzte und das qualifizierte Pflegepersonal können diese ärztliche Könnerschaft am Großbildschirm miterleben und Erfahrungen und Praktiken übernehmen – ein vor zehn Jahren technisch noch unvorstellbarer Vorgang. Und was ist mit der Könnerschaft der psychiatrischen Profession? Sie versteckt sich hinter dem Argument, dass doch jedes kranke Individuum anders und eben gerade nicht normierbar und nicht standardisierbar sei, wenn es um die Behandlung seelischer Leiden wie der Depression geht.
Ich bezweifle das. Es ist die Frage des
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