Pünktchen und Anton
konnte ihnen nun trotz des Menschenstroms, der hier durch die Straße trieb, bequem folgen.
Sie steuerten, am Bahnhof Friedrichstraße vorbei, der Weidendammer Brücke zu. Und auf der Brücke blieben sie, ans Geländer gelehnt, stehen.
Es regnete noch immer.
Die elfte Nachdenkerei handelt: VON DER LÜGE
Pünktchen belügt ihre Eltern, daran ist nicht zu wakkeln. Und so nett sie sonst ist, daß sie lügt, ist abscheulich. Wenn wir sie jetzt hier hätten und sie fragten: »Du, schämst du dich denn gar nicht? Warum belügst du deine Eltern?« Was würde sie antworten? Sie steht zwar gerade auf der Weidendammer Brücke, und da dürfen wir sie nicht stören. Aber was würde sie sagen, wenn sie bei uns säße?
»Fräulein Andacht ist schuld«, würde sie sagen. Und das wäre eine faule Ausrede.
Denn wenn man nicht lügen will, kann man durch keine Macht der Welt dazu gezwungen werden. Vielleicht hat sie Angst vor dem Kinderfräulein? Vielleicht hat die Andacht dem Kind gedroht?
Dann brauchte Pünktchen nur zu ihrem Vater zu gehen und zu sagen: »Direktor, das Fräulein will mich zwingen, daß ich euch belüge.« Dann würde Fräulein Andacht auf der Stelle entlassen, und ihre Drohung wäre umsonst gewesen.
Es bleibt dabei: Pünktchen lügt, und das ist sehr unanständig. Wir wollen hoffen, daß sie sich, durch ihre Erlebnisse belehrt, bessert und das Lügen künftig bleibenläßt.
Zwölftes Kapitel - KLEPPERBEIN VERDIENT ZEHN MARK UND EINE OHRFEIGE
H e r r Pogge stand an der Komischen Oper mitten auf der Straße und blickte angestrengt zur Weidendammer Brücke hinüber. Er sah, wie das Kind den Vorübergehenden die Hände entgegenstreckte und dazu knickste. Manchmal blieben Passanten stehen und gaben Geld. Dann knickste die Kleine wieder und schien sich zu bedanken. Er entsann sich der gestrigen Szene zu Hause. Pünktchen hatte im Wohnzimmer gestanden, die Wand angejammert und gesagt: »Streichhölzer, kaufen Sie Streichhölzer, meine Herrschaften!«
Sie hatte geprobt! Es war kein Zweifel möglich: dort drüben stand sein Kind und bettelte! Ihn fror.
Er betrachtete die dürre, lange Person daneben.
Natürlich war das Fräulein Andacht. Sie trug ein Kopftuch und hatte eine dunkle Brille vor den Augen.
Er erkannte sie trotzdem.
Sein Kind stand in einem dünnen, alten Kleid auf der Brücke, ohne Hut, die Locken waren strähnig vom Regen. Er schlug den Mantelkragen hoch. Dabei bemerkte er, daß er noch immer die kalte Zigarre zwischen den Fingern hielt. Sie war völlig zerblättert, und er warf sie wütend, als sei sie an allem schuld, in eine Pfütze. Dann kam ein Schutzmann und wies ihn auf den Fußsteig.
»Herr Wachtmeister«, sagte Herr Pogge, »ist es erlaubt, daß kleine Kinder abends hier herumstehen und betteln?«
Der Schutzmann zuckte die Achseln. »Sie meinen die beiden auf der Brücke? Was wollen Sie machen?
Wer soll die blinde Frau denn sonst hierherführen?«
»Sie ist blind?«
»Ja freilich. Und dabei noch ziemlich jung. Fast jeden Abend stehen sie dort drüben. Solche Leute wollen auch leben.« Der Schutzmann wunderte sich, daß ihn der Fremde ziemlich schmerzhaft am Arm packte.
Dann sagte er: »Ja, es ist ein Elend.«
»Wie lange stehen denn die zwei normalerweise dort?«
»Zwei Stunden wenigstens, so bis gegen zehn.«
Herr Pogge trat wieder von dem Trottoir herunter.
Er machte ein Gesicht, als wollte er hinüberstürzen, dann besann er sich und bedankte sich bei dem Beamten. Der Schutzmann grüßte und ging weiter.
Plötzlich stand Gottfried Klepperbein da, grinste 1übers ganze Gesicht und zupfte ihn am Mantel. »Na, was habe ich gesagt, Herr Direktor?« flüsterte er.
»Habe ich Ihnen zuviel versprochen?«
Herr Pogge schwieg und starrte über die Straße.
»Auf der anderen Seite der Brücke steht der Freund vom Fräulein Tochter«, sagte Klepperbein gehässig.
»Der bettelt auch. Aber richtig. Anton Gast heißt er. Der gehörte schon längst in Fürsorge.«
Herr Pogge schwieg und betrachtete Anton. Mit einem Betteljungen war Pünktchen befreundet? Und warum verkauften seine Tochter und das Kinderfräulein eigentlich Streichhölzer? Was steckte dahinter?
Wozu brauchten sie denn heimlich Geld? Er wußte nicht, was er denken sollte.
»So, hiermit wäre das Honorar fällig«, erklärte Gottfried Klepperbein und tippte Herrn Pogge auf den Mantel. Der Direktor zog die Brieftasche, nahm einen Zehnmarkschein heraus und gab ihn dem Jungen.
»Lassen Sie die Brieftasche gleich
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