Puerta Oscura - 01 - Totenreise
Sonntag. Daphne würde ihren ganzen Mut zusammennehmen, um eine riskante Aktion auszuführen: herauszufinden, was in Paris die beunruhigenden Anzeichen provozierte, die sie wahrnahm. Und dazu musste sie ein totes Wesen befragen, ein Vorgang, der für einen Lebenden eine große Gefahr barg.
Sie war bereit, sie auf sich zu nehmen. Die Wahrsagerin wurde von seltsamen Träumen heimgesucht, hatte Visionen von Orten in der Stadt mit großer übersinnlicher Kraft und bemerkte Zeichen aus dem Jenseits. In den siebzig Jahren ihres Lebens war ihr nie zuvor etwas Ähnliches passiert. Sie war sich dessen bewusst, dass irgendetwas von großer Tragweite in der Welt geschah, doch hatte sie noch nicht herausgefunden, was es war. Und das bereitete ihr große Sorgen.
Sie hatte die Gegend, wo früher die alten Markthallen standen, fast erreicht: Es waren noch zwei Minuten bis zur Rue l’ Arbre Se c, wo sich einst ein Galgenbaum befunden hatte, die Hinrichtungsstätte der Todeskandidaten.
Es war ein Ort, der von den Parisern kaum als etwas Besonderes wahrgenommen wurde – von ihr allerdings schon, weil sie dort eine ungewöhnliche Energiekonzentration spürte, ein Zusammenfließen von Vergangenheit und Gegenwart, wo Leben und Tod miteinander in Verbindung standen. Sie sollte sich an diesem Ort nicht aufhalten, und schon gar nicht um diese Zeit. Aber sie tat es.
Daphne atmete mehrmals tief ein und aus und versuchte sich zu beruhigen. Noch eine Minute bis Mitternacht. Noch konnte sie umkehren. Einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, nicht in das Geschehen einzugreifen, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, auch wenn das eine Katastrophe für die Lebenden bedeuten konnte. Doch sie brachte es nicht fertig, sich herauszuhalten; sie allein hatte in Paris die Fähigkeit, zu tun, was jetzt nötig war und unabdingbar.
Daphne ging ein paar Schritte, bis sie vor einem Brunnen in der Straße stand, eingelassen in die Fassade eines alten Hauses. Sie betrachtete das muschelförmige Becken und darüber, unter einem Wappen, ein bronzenes Männergesicht mit ernstem Ausdruck, aus dessen Mund die Röhre ragte, aus der das Wasser floss. In der Ferne erklangen Glockenschläge. Es war zwölf Uhr, die Stunde des Teufels.
Sie stimmte einen alten Psalmengesang an, warf einen letzten Blick in die Straße und schloss die Augen, um mit der Selbsthypnose zu beginnen. Nach wenigen Sekunden schon fiel sie in Trance, war den gewaltigen Energien des Ortes schutzlos ausgeliefert und wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt. Sie meinte durch eine unendliche, große Leere zu gehen, so grenzenlos wie das Universum selbst. Ihr Körper war einen Moment lang einem so großen Druck ausgesetzt, dass sie glaubte, ihre Lungen würden platzen. Dann ging ihre Seele auf Reisen.
***
Michelle, das Gesicht hinter einem dicken, schwarzen Schal versteckt, war auf dem Weg nach Hause. Ihre hohen Absätze klapperten auf dem Asphalt. Es war spät geworden bei Mathieu, wo sie gemeinsam ein Referat vorbereitet hatten, das sie morgen in der Schule halten mussten, und jetzt beschleunigte sie ihren Schritt, um so schnell wie möglich zurück ins Internat zu kommen.
Trotzdem bekam Michelle dieser einsame nächtliche Spaziergang gut, weil er ihr Gelegenheit zum Nachdenken bot. Schon seit ein paar Tagen schob sie die Entscheidung wegen Pascal vor sich her, wohl wissend, dass ihr Verhalten eine Geduldsprobe für ihren Freund bedeutete. Doch sie musste ihre Gefühle Pascal gegenüber ehrlich unter die Lupe nehmen. Was empfand sie wirklich für ihn? War es das, was Pascal sich so wünschte?
Ihre Schritte hallten über das Pflaster, keine Menschenseele war außer ihr unterwegs. Auf einmal vernahm Michelle ein lautes Flügelschlagen. Sie hob den Kopf. War da etwas zwischen den Dächern der kleinen Häuser? Es sah aus wie das Wehen von dunkler Kleidung. Neugierig blieb sie stehen. Was ihre Aufmerksamkeit erregte, war die Schwere der Bewegung in der Luft, wie von etwas Größerem als einem Vogel. Sie ließ den Blick über die Dachschrägen gleiten, ohne etwas Ungewöhnliches zu entdecken. Nicht einmal einen Nachtvogel. Nichts.
Plötzlich fiel ihr auf, dass es vollkommen windstill war, nicht das geringste Lüftchen regte sich. Merkwürdig. Es veranlasste sie, erneut nach der Ursache für das zu suchen, was sie meinte gesehen zu haben. Auf einem der dunklen, leicht schrägen Dächer glaubte sie eine reglose Gestalt zu sehen, die sie beobachtete. Wie konnte das sein? Narrten ihre Sinne
Weitere Kostenlose Bücher