Puerta Oscura - 01 - Totenreise
in ihm vorging. »Okay«, sagte er deshalb nur knapp und versuchte abzulenken. »Weißt du eigentlich, was mit ihr ist? Sie ist heute nicht gekommen.«
»Keine Ahnung«, erwiderte Dominique. »Gestern hat sie mit Mathieu bis spät an einem Referat gearbeitet. Vielleicht musste sie sich ja ausschlafen …«
»Nein, du kennst sie doch, sie kommt sonst immer pünktlich in die Schule.«
Sie erreichten das Klassenzimmer.
Der Himmel über Paris begann sich zuzuziehen. Am Ende des Vormittags würden sie erfahren, dass man im Leichnam des Lehrers Henri Delaveau nicht einen Tropfen Blut gefunden hatte.
***
Der Montagnachmittag verging ohne besondere Vorkommnisse. Pascal hatte Michelle nicht erreichen können, und er hatte es auch nicht permanent probiert. Mehr und mehr nahm der Gedanke von ihm Besitz, den zweiten Besuch im Reich der Toten nicht lange vor sich herzuschieben.
Es dunkelte bereits, als er vor Jules’ Tür stand. Nervös drückte er auf den Klingelknopf.
Er hatte natürlich auch die Idee gehabt, Daphne aufzusuchen, die Wahrsagerin, weil sie so viel über die bevorstehenden Ereignisse zu wissen schien. Auch sollte sie ihm bestätigen, dass das alles wirklich so war, was er da erlebt hatte; so etwas wie eine Sachverständige … Doch es war ihm nicht gelungen, den Ort wiederzufinden, wo er und Dominique sie getroffen hatten. Der Freund war mit ihm durch die verschlungenen Gässchen des Marai s’ gegangen, und er, Pascal, konnte sich nicht mehr an den Weg erinnern. Dominique wollte er nicht danach fragen, weil der sicher argwöhnisch geworden wäre und Fragen gestellt hätte …
»Ja?«
»Jules?«
»Ja.«
»Hier ist Pascal Rivas.« Er schluckte. »Ich habe bei deiner Party vor ein paar Tagen etwas auf dem Dachboden liegen lassen, als ich mich verkleidet habe. Könnte ich vielleicht raufkommen und es holen?«
»Na klar. Ich mach dir auf.«
Ein Summen ertönte, und kurz darauf erklomm Pascal die Treppe, die zum Dachboden führte. Das Problem war nur, dass Jules ihn begleitete. Wie sollte er ihn loswerden?
»Ich bin nicht sicher, wo ich es hingelegt habe«, sagte Pascal. »Falls du was zu tun hast, will ich dich nicht abhalten, ich sag dir dann Bescheid.«
Jules zögerte einen Augenblick, doch als von unten ein durchdringendes Telefonklingeln ertönte, schloss er rasch die Tür auf und machte auf dem Absatz kehrt. »Okay, Pascal. Bis gleich.«
»In Ordnung. Ich brauche bestimmt nicht lange. Vielen Dank.«
Jules verschwand die Treppe hinunter, und Pascal betrat den Raum. Ohne zu zögern wandte er sich der riesigen alten Truhe zu, die sich an diesem vergessenen Ort befand. Wenn die Marceaux’ das Alter des Möbelstücks gekannt hätten – sie hätten es bestimmt längst für ein Vermögen verkauft.
Pascal näherte sich langsam der Dunklen Pforte. Theoretisch stand sie ihm, seit er zum Wanderer geworden war, stets offen. Er konnte jederzeit die Reise ins Totenreich antreten. Er würde bald wissen, ob dies tatsächlich stimmte.
Als er mit den Fingern über den massiven Holzdeckel strich, bekam er eine Gänsehaut. Einen Augenblick verhielt er noch, an dieser heiligen Pforte des Todes … dann klappte er entschlossen den Deckel auf. Im Inneren der Truhe herrschte das gleiche Durcheinander der Kleider von der verschwundenen Urgroßmutter Lena, darunter das Kostüm, das er aus dem Reich der Toten mitgebracht hatte. Er wollte die zweite Reise zu dem geheimen Ort auch dazu nutzen, die Klamotten zurückzugeben.
Mit klopfendem Herzen kletterte er in die Truhe. Er zog den Deckel zu, und sofort umgab ihn wieder die schon vertraute Dunkelheit. Pascal schloss die Augen und versuchte, sich auf das Ziel zu konzentrieren, damit er keine Platzangst bekam. Dann kauerte er sich zwischen die Kleidungsstücke, legte schützend seine Arme um den Kopf und wartete, was geschehen würde.
Ein, zwei Minuten vergingen, und es herrschte absolute Stille. Dann die erste heftige Bewegung des Möbelstücks. Ein geheimnisvoller Nebel bildete sich um ihn, dem ein leichtes Vibrieren folgte, doch es war schwächer, als Pascal es in Erinnerung hatte. Es bestand kein Zweifel mehr. Er würde wirklich die Reise wieder antreten können, wie man es ihm gesagt hatte. Aber was würde mit ihm diesmal im Reich der Toten passieren?
Auf einmal fiel ihm ein, dass er dem Lehrer Henri Delaveau begegnen könnte, und ein Schauer überlief ihn. Wenn dies geschähe, könnte ihm der Verstorbene vielleicht verraten, wer sein Mörder
Weitere Kostenlose Bücher