Puerta Oscura - 01 - Totenreise
den Ort, an dem er ihm auflauerte, geschickt gewählt; eine Gegend abseits der Montmartre- Touristenwege, die um diese Zeit ziemlich verlassen war.
Die Angst verlieh Edouard ungewohnte Kräfte. Doch jedes Mal, wenn er sich umdrehte, um festzustellen, ob er seinen Verfolger abgehängt hatte, entdeckte er ihn ganz in der Nähe: hinter einem Baum, neben einem Brunnen, zwischen geparkten Autos. Außer Atem blieb er stehen. Um diese Zeit war alles geschlossen und dunkel.
Da griff der Vampir an.
Mit der Geschwindigkeit einer Raubkatze war er bei ihm. Edouard wusste nicht, wie er reagieren sollte, als der Unbekannte plötzlich vor ihm stand, seinen Arm ausstreckte und seine Hand wie ein Fangeisen um seinen Hals legte. Edouard lief unter dem eisernen Griff der Finger rot an und bekam keine Luft mehr.
Das Monster hob ihn einen halben Meter in die Luft, als würde er nur ein paar Gramm wiegen. Edouard zappelte wie eine Marionette, brachte jedoch keinen Laut heraus, und der Vampir trug ihn in einen langen, dunklen Hausdurchgang.
***
Es war ziemlich spät geworden. Dominique wartete abseits auf der Straße. Er war unten geblieben: Natürlich hatten beide, er und Pascal, nicht bedacht, dass es keinen Fahrstuhl von Jules’ Wohnung bis hinauf in den Dachstuhl gab. So unterwies Dominique seinen Freund rasch in der »Technik« des Schlossknackens, und Pascal war allein ins Haus gegangen.
Dominique war zufrieden mit seinem Einfall, dem Brief an seine Großmutter … und konnte sich vor Ungeduld kaum bezähmen. Wie würde der Freund wohl mit der bevorstehenden Niederlage umgehen?
Da ging die Eingangstür auf und Dominique reckte den Kopf, um zu sehen, ob es sich um Pascal handelte. Er war es. Er hatte nicht lange gebraucht. Während Pascal näher kam, versuchte Dominique am Gesicht seines Freundes abzulesen, was geschehen würde. Doch Pascal machte eine gleichgültige Miene.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte Dominique. »Weißt du nun, was ich meiner Großmutter geschrieben habe?«
»Nein.«
Dominique lächelte zufrieden. »Wie kommt’s?«, fragte er. »Ich dachte, du kannst mit den Toten reden und so weiter?«
Jetzt war es an Pascal zu lächeln. »Das ist eine Frage der Erziehung. Man öffnet keine fremden Briefe.«
Dominique machte ein verständnisloses Gesicht. »Was willst du damit sagen?«
Pascal steckte seine Hand in die rechte Hosentasche. Als er sie wieder herauszog, hielt er einen fleckigen und vergilbten Briefumschlag darin, den er seinem Freund überreichte.
»Was ist das?«, fragte Dominique verständnislos.
»Dreh ihn um.«
Dominique gehorchte. Seine Selbstsicherheit war wie weggewischt, als er die im Laufe der Jahre verblasste Schrift las: »Für Großmama«.
Es war seine Schrift, sein Brief.
»Aber … wie …?«
Dominique fehlten die Worte. Mit reglosem Ausdruck starrte er auf den Umschlag. Er öffnete ihn, ohne es zu wagen, seinen Freund anzuschauen. Drin lag der Text, den er als kleiner Junge geschrieben hatte. Die Welle der Erinnerungen, die ihn überkam, ließ ihn in Tränen ausbrechen.
»Mein Gott, Pascal«, stammelte er endlich und holte tief Luft. »Ich glaube, du musst mir deine Geschichte noch einmal erzählen.«
***
Der Vampir schob sein Gesicht dicht an Edouards heran, und dieser roch seinen stinkenden Atem.
»Wo ist sie …?«, flüsterte er mit Grabesstimme. »Wo ist die Pforte …?«
»Was für eine …«, krächzte er und hoffte, dass ihn die Finger, die sich in seinen Hals gruben, nicht strangulieren würden. »Ich weiß nicht, was Sie …«
Der Vampir entblößte erneut seine Fangzähne und blickte ihn hasserfüllt an. Edouard spürte die Kälte seines Amuletts, das er versäumt hatte seinem Angreifer entgegenzuhalten. Es war plötzlich so rasch gegangen …
Auf einmal waren Schritte zu hören. Jemand kam in den Durchgang. Der Vampir blickte mit seinen bösen Augen in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, und drehte sich dann wieder zu seinem Opfer um. Er lächelte und übermittelte ihm eine letzte Botschaft: »Wir sehen uns wieder …«
Dann machte die Kreatur eine brüske Bewegung mit dem Arm und schleuderte Edouard mehrere Meter durch die Luft gegen eine Wand. Von dem heftigen Aufprall verlor er beinahe das Bewusstsein, mit einem Schrei stürzte er zu Boden. Das Monster war verschwunden, doch stattdessen kam ein Mann auf ihn zu. »Nicht bewegen, du hast dir vielleicht das Rückgrat verletzt!«, befahl ihm der Fremde. »Mein Name ist Marcel Laville. Ich bin Arzt. Ein
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