Puerta Oscura - 01 - Totenreise
»Monsieur Varney, die Schüler erwarten Sie.«
Niemand antwortete. Daphne hielt ihre mentale Abwehr aufrecht, denn der Alarm wurde nicht schwächer. Schließlich sagte eine dunkle Stimme die erlösenden Worte: »In Ordnung, danke. Ich komme.«
Das beruhigende Geräusch von Schritten, seinen Schritten, war zu hören, die sich über den Flur entfernten. Ihr Amulett wurde wieder wärmer. Wie durch ein Wunder war sie davongekommen.
Daphne würde weder den dunklen Klang der Stimme noch diesen Namen vergessen: Varney. Denn sie würden sich wiedersehen. Und sie schwor sich, dass sie das nächste Mal vorbereitet sein würde.
Kurz darauf trat sie auf die Straße. Es hatte zu regnen begonnen, doch sie war dankbar dafür. Sie ließ sich den Regen übers Gesicht laufen, und es machte ihr nichts aus, dass ihr Haar nass wurde. Sie genoss es, sich lebendig zu fühlen.
***
»Willst du mir wirklich nichts erzählen?«, hakte Marcel nach, der im Türrahmen des Krankenzimmers lehnte und den Jungen ansah. »Ich arbeite für die Polizei.«
Edouard schüttelte erneut den Kopf.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe. Doch es ist nicht der Rede wert, mir ist ja nichts gestohlen worden.«
Der Gerichtsmediziner war überrascht.
»Aber du hast zwei gebrochene Rippen, Prellungen am ganzen Körper und Blutergüsse am Hals! Willst du nicht, dass wir diesen brutalen Kerl finden, der dir das angetan hat? Du musst Anzeige erstatten. Wer weiß, was hätte passieren können, wenn ich nicht plötzlich gekommen wäre …«
Edouard konnte es sich vorstellen, was hätte passieren können, doch er blieb stur. Was sollte die Polizei in diesem Fall ausrichten? Er musste viel dringender Daphne erzählen, was ihm zugestoßen war, aber er hatte sie zu Hause nicht erreichen können. Warum hatte die Frau nur kein Handy? Unter anderen Umständen hätte er versucht, ihr mental eine Nachricht zu übermitteln, doch er fühlte sich zu schwach.
Eine Krankenschwester betrat das Zimmer.
»Sie werden draußen erwartet, Doktor Laville.«
Marcel nickte und folgte ihr auf den Flur, wo Marguerite auf ihn wartete.
»Wie ich sehe, arbeiten wir heute Nacht beide«, sagte sie. »Was treibst du hier um diese Zeit? Ich brauche dich hundertprozentig für den Fall Delaveau.«
»Ich bin bei einem Jungen, der überfallen wurde, Marguerite. Aber er will keine Anzeige erstatten …«
»Ein Grund, sich nicht darum zu sorgen. Mach dich lieber auf die Suche nach unserem Mörder! Sollen sich doch andere mit nächtlichen Schlägereien beschäftigen.«
»Es gibt ein paar merkwürdige Dinge bei dem Überfall …«
»Ich meine mich zu erinnern«, sagte Marguerite, »dass du schon mit einem merkwürdigen Fall befasst bist. Also kümmre dich gefälligst um diesen.«
Marcel lächelte.
»Ich mag deine höfliche Art, wenn du einen um etwas bittest.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Erinnerst du dich an die beiden Jugendlichen, die am letzten Freitag nach einer Party verschwunden sind?«
Marcel nickte.
»Du weißt, dass wir erst an ein kleines Liebesabenteuer dachten.«
»Ja, es sah ganz danach aus«, erwiderte der Gerichtsmediziner und nickte. »Hast du etwas herausbekommen? Hat man sie gefunden?«
»Nein. Das ist es ja, was mir Sorgen macht. Zwei junge Leute, die sich spontan zu so etwas entschließen, können nicht länger als einen Tag verschwunden bleiben. Aber sie sind schon seit vier Tagen wie vom Erdboden verschluckt.«
»Und wenn es geplant war?«
»Nein, ihre Freunde behaupten, dass sie sich bis zu diesem bewussten Abend kaum kannten.«
»Das klingt wirklich seltsam.« Plötzlich stutzte Marcel. »Warum hat man dir den Fall übergeben? Es geht da nicht um Mord.«
Marguerite setzte eine Leidensmiene auf.
»Aber sie gehen auf die gleiche Schule wie der ermordete Lehrer. Und man vermutet Zusammenhänge. Übrigens gehen viele der Partygäste auf diese Schule, der Gastgeber eingeschlossen. Da gibt es viele Möglichkeiten …«
Sie schnaufte durch die Nase. »Und wenn der verletzte Junge, den du da in dem Krankenzimmer hast, ebenfalls dazugehört, erschieße ich mich, dann sind wir schneller fertig.«
Die beiden brachen in Gelächter aus.
»Ganz ruhig, Marguerite. Denk dran, der Junge ist schon neunzehn.«
»Na und? In der Zwischenzeit halte ich alles für möglich. Er könnte die Klasse wiederholt haben, oder?«
Während sie sich auf dem Flur unterhielten, war es Edouard in seinem Zimmer endlich gelungen, Daphne über Festnetz zu erreichen. Sie wollte
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