Puerta Oscura - 01 - Totenreise
vorhaben, Marguerite. Aber schnappen Sie diesen Psychopathen, bevor er ein weiteres Mal mordet.«
Marguerite seufzte. »Und wenn das bedeutet, dass wir wieder gegen die Vorschriften verstoßen müssen?«
Der Hauptkommissar sah sie an, als wollte er sie mit seinem Blick vernichten. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, und es klang, als hätte er Mühe, die Worte zu artikulieren.
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, sagte er zähneknirschend. »Doch diskreter, vor allem, wenn es darum geht, einen Richter zu übergehen. Finden Sie den Mörder.«
»Einverstanden.«
»Verschwinden Sie, die Zeit ist knapp. Marguerite«, fügte der Hauptkommissar hinzu, während sie aufstanden. »Ihre letzte Frage ist nicht gestellt worden, verstanden?«
***
Michelle starrte angestrengt in den düsteren Himmel und hielt nach schimmernden Sternen Ausschau, während der Karren den Weg entlangholperte. Sie versuchte, irgendeinen Lichtpunkt zu finden und die von ihren Fesseln verursachten Schmerzen zu ignorieren. Sie drehte ihren Kopf so, als erwartete sie einen heilsamen Regen, der jedoch nicht kommen wollte. Nur Dunkelheit, so weit das Auge reichte. Sie starrte nach oben und gab sich irgendwann geschlagen. Wo waren nur die Sterne? Einer am ganzen Firmament hätte ihr genügt. Mehr verlangte sie nicht.
Michelle dachte an ihre Eltern. Sie erinnerte sich an ihre traurigen und zugleich stolzen Gesichter, als sie sich am Vorabend ihres ersten Tages in Paris vor dem Internat verabschiedet hatten. Das war jetzt schon zwei Jahre her, doch die Bilder dieses Tages waren noch ganz frisch. Michelle hatte damals ihr Heimatdorf verlassen, um in Paris aufs Gymnasium zu gehen, und ihre Eltern hatten sie in dem Wunsch voll unterstützt. So wie sie sie immer in allem unterstützt hatten … Plötzlich schnürte es Michelle die Kehle zu, und die Tränen rollten ihr über die Wangen. Sie spürte, wie sie ihr bis zu den Lippen liefen, die von dem Knebel auseinandergedrückt wurden. Auch für sie war es zuerst nicht einfach gewesen, ihr Zuhause zu verlassen und mit Fremden zusammenzuleben. Doch schließlich hatte sie sich eingewöhnt und fühlte sich sehr wohl in Paris, vor allem dank ihrer Freunde Pascal, Dominique, Mathieu oder Jules.
Sie schluchzte. Wie hatte man sie nur so brutal aus ihrem Leben reißen können? Wie konnten ihre Erinnerungen daran nur so fern erscheinen?
Die unsichtbare Trommel, die das Tempo des Gespensterzugs vorgab, wurde in stets gleichem Takt geschlagen.
»Wenn die letzten Tage eines zum Tode Verurteilten von einem Soundtrack begleitet würden, dann wäre das die Melodie«, dachte Michelle.
***
Halb fünf Uhr nachmittags auf dem Dachboden. Das intensive Gespräch zwischen den Anwesenden war beendet. Jules, der sich nach den für ihn bestimmten, unglaublichen Eröffnungen wieder gefasst hatte, betrachtete die riesige Truhe mit ehrfürchtiger Miene. Daphne ging es nicht viel anders, wenn sie es sich auch nicht anmerken ließ. Seit Jahrzehnten träumte sie davon, einmal vor einer Dunklen Pforte zu stehen, und sie konnte es kaum glauben, dass dies nun in Erfüllung ging. Sie ließ sich in diesem Moment von der machtvollen Aura mitreißen, die diese Schwelle zwischen Leben und Tod verströmte. Eine heilige Schwelle, die jedoch nicht sie, sondern nur Pascal, der Wanderer, übertreten konnte. Aber das war ihr gleichgültig. Ihre eigentliche Aufgabe als Wahrsagerin war es, in stiller Anonymität zu handeln. Seit Urzeiten hatten Druiden und Zauberer diese unsichtbare Rolle gespielt, waren heimliche Lenker, welche Könige und Prinzen, selbst die Kanzler und Präsidenten der modernen Völker unterstützten. Daphne genügte der Anblick der sargähnlichen Truhe. Sie suchte nicht nach Ruhm.
Jules überlief erneut eine Gänsehaut, doch es war nicht Angst, die sie hervorrief. Immer schon hatte er an das Jenseits und an eine Verbindung der Dunkelheit zur Welt der Lebenden geglaubt, also hatte es ihm keine Mühe gemacht, das, was ihm Pascal, Dominique und die Wahrsagerin erzählt hatten, zu glauben. Alle seine Überzeugungen wurden aufs Großartigste bestätigt. Selbst die unglaubliche Geschichte vom geheimnisvollen Verschwinden seiner Urgroßmutter Lena vor einem Jahrhundert passte, auch wenn er es nicht erwähnte. Er bedauerte lediglich, dass er nicht derjenige gewesen war, der entdeckt hatte, was es mit dieser unscheinbaren mittelalterlichen Truhe auf sich hatte.
»Spätestens wenn ich hineinsteige und verschwinde, wirst du alles
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