Puls
sie werde ihn anrufen, »wenn der Staub sich gelegt« habe, geriet Woodbody jedoch wirklich aus der Fassung.
Er sagte, die Tatsache, dass sie das Bett eines großen amerikanischen Schriftstellers geteilt habe, qualifiziere sie nicht dafür, als seine literarische Nachlassverwalterin zu fungieren. Das, sagte er, sei eine Aufgabe für einen Fachmann, und seines Wissens besitze Mrs. Landon nicht einmal einen College-Abschluss. Er erinnerte sie an die Jahre, die seit Scott Landons Tod bereits verstrichen waren, und die ständig zunehmenden Gerüchte. Angeblich gab es haufenweise unveröffentlichte Arbeiten Landons - Kurzgeschichten, sogar Romane. Konnte sie ihn nicht wenigstens für kurze Zeit in sein Arbeitszimmer lassen? Ihn ein bisschen in den Karteikästen und Schreibtischschubladen nachforschen lassen, und wäre es auch nur, um die wildesten Gerüchte zu widerlegen? Natürlich könne sie die ganze Zeit dabeibleiben - das verstehe sich von selbst.
»Nein«, hatte sie gesagt und Professor Woodbody die Tür gewiesen. »Ich bin noch nicht so weit.« Sie hatte die Tiefschläge des Mannes ignoriert - oder es zumindest versucht -, weil er offenbar doch so verrückt war wie alle anderen. Er hatte das nur geschickter und etwas länger getarnt. »Und wenn ich's bin, werde ich mir alles ansehen wollen, nicht nur die Manuskripte.« »Aber ...«
Sie hatte ernst genickt. »Alles beim Alten.« »Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen.« Natürlich tat er das nicht. Das hatte zur vertraulichen Sprache ihrer Ehe gehört. Wie oft war Scott hereingeschneit und hatte gerufen: »He, Lisey, ich bin wieder da - alles beim Alten?« Womit er gemeint hatte: Ist alles in Ordnung, ist alles cool? Aber wie die meisten Schlagworte (Scott hatte ihr das einmal erklärt, aber Lisey hatte es bereits gewusst) hatte auch dieses eine innere Bedeutung. Ein Mann wie Woodbody konnte die innere Bedeutung von alles beim Alten nie erfassen. Lisey hätte sie ihm den ganzen Tag lang erklären können, und er hätte sie trotzdem nicht verstanden. Weshalb? Weil er ein Inkunk war, und wenn es um Scott Landon ging, interessierte die Inkunks nur eines.
»Spielt keine Rolle«, hatte sie an jenem Tag vor fünf Monaten zu Professor Woodbody gesagt. »Scott hätte es verstanden.«
3
Hätte Amanda sie gefragt, wo die Dinge aus Scotts »Sammlerecke« eingelagert seien - die Preise und Plaketten und solches Zeug -, hätte Lisey gelogen (was sie für jemanden, der das selten tat, leidlich gut konnte) und gesagt: »In einem Schließfach in Mechanic Falls.« Amanda fragte jedoch nicht. Sie blätterte nur immer demonstrativer in ihrem kleinen Notizbuch und versuchte offenbar, ihre jüngere Schwester dazu zu bringen, das Thema ihrerseits mit der geeigneten Frage anzuschneiden, aber auch Lisey fragte nicht. Sie dachte lediglich, wie leer diese Ecke jetzt doch war, wie leer und uninteressant, seit so viele von Scotts Erinnerungsstücken verschwunden waren. Entweder vernichtet (wie sie den Computermonitor zerstört hatte) oder zu schlimm zerkratzt und verbeult, um gezeigt zu werden; eine solche Ausstellung hätte mehr Fragen aufgeworfen, als sie je hätte beantworten können.
Schließlich gab Amanda nach und schlug ihr Notizbuch auf. »Sieh dir das an«, sagte sie. »Sieh's dir einfach an.«
Manda hielt ihr die erste Seite hin. Auf den blauen Linien, von den kleinen Metallbügeln links bis zum äußersten Blattrand rechts (wie eine kodierte Nachricht von einem dieser auf den Straßen herumlaufenden Verrückten, denen man in New York ständig begegnet , weil für die öffentlich finanzierten Irrenanstalten nicht mehr genug Geld da ist , dachte Lisey matt) standen dicht gedrängt Zahlen. Die meisten waren umkringelt. Ganz wenige waren von Quadraten umgeben. Manda blätterte um, und nun waren zwei mit demselben Zeug voll gekritzelte Seiten zu sehen. Auf der nächsten Seite hörten die Zahlen in der Mitte auf. Die letzte schien 856 zu sein.
Amanda bedachte sie mit dem schrägen, rotwangigen, leicht lächerlichen hochmütigen Ausdruck, der früher, als sie zwölf und die kleine Lisey erst zwei gewesen war, bedeutet hatte, dass Man-da hingegangen war und etwas auf eigene Faust unternommen hatte. Tränen für irgendjemanden würden folgen; meistens für Amanda selbst. Lisey merkte, dass sie mit gewissem Interesse (und leichtem Grausen) darauf wartete, was dieser Ausdruck wohl diesmal bedeuten würde. Amanda hatte sich, seit sie aufgekreuzt war, so verrückt benommen
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