Puls
musste Clay ihn sich wieder schnappen, wie man sich ein Kleinkind grapschte, das auf dem Parkplatz eines Supermarkts ausbüxen wollte. Dabei musste Clay jedes Mal unwillkürlich an den Aufziehroboter denken, den er als Junge gehabt hatte, und wie der Roboter es immer wieder geschafft hatte, in eine Ecke zu geraten, in der er nutzlose Marschbewegungen mit den Beinen gemacht hatte, bis man ihn wieder in Richtung Zimmermitte gedreht hatte.
Johnny hatte sich kurz und panikartig gewehrt, als Clay ein Auto mit steckendem Zündschlüssel gefunden hatte, aber sobald er den Jungen angeschnallt, die hinteren Türen mit der Kindersicherung verriegelt und den Wagen in Bewegung gesetzt hatte, hatte Johnny sich wieder beruhigt und dann fast wie hypnotisiert gewirkt. Er fand sogar die Taste, mit der er die Scheibe herunterfahren konnte, und ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht blasen, wobei er die Augen schloss und leicht den Kopf hob. Clay beobachtete, wie der Fahrtwind die langen schmutzigen Haare seines Sohns nach hinten blies, und dachte: Gott steh mir bei, das ist, als würde man mit einem Hund spazieren fahren.
Als sie ein Straßenriff erreichten, das sie nicht umfahren konnten, und Clay seinem Sohn beim Aussteigen half, entdeckte er, dass Johnny sich in die Hose gemacht hatte. Er hat seine Erziehung zur Sauberkeit ebenso verloren wie seine Sprache, dachte er trübselig. Verdammt noch mal Und diese Vermutung bestätigte sich, aber ihre Folgen waren weniger kompliziert oder schwerwiegend, als Clay damit gerechnet hatte. Johnny war nicht mehr sauber, aber wenn man anhielt und ihn auf ein Feld führte, ließ er Wasser, wenn er gerade musste. Oder wenn er sich hinhocken musste, dann tat er das und sah verträumt zum Himmel auf, während er sich entleerte. Vielleicht verfolgte er die Bahn der vorbeifliegenden Vögel. Vielleicht auch nicht.
Nicht sauber, aber stubenrein. Clay konnte nicht anders, als an die Hunde zu denken, die er früher gehabt hatte.
Nur wachten Hunde nicht jeweils mitten in der Nacht auf und schrien eine Viertelstunde lang.
5
Jene erste Nacht hatten sie in einem Haus unweit der Handelsniederlassung Newfield verbracht, und als das Kreischen begann, hatte Clay geglaubt, Johnny liege im Sterben. Und obwohl der Junge in seinen Armen eingeschlafen war, war er verschwunden, als Clay hochfuhr. Johnny war nicht mehr im Bett, sondern darunter. Clay kroch ebenfalls unters Bett, in eine bis zum Ersticken mit Wollmäusen angefüllte Höhle, in der er die Sprungfedern des Bettkastens nur einen Fingerbreit über seinem Kopf hatte, und umklammerte den mageren Körper, der steif wie eine Eisenstange war. Die Schreie des Jungen waren lauter, als eine so kleine Lunge eigentlich hätte hervorbringen können, und Clay begriff, dass er sie in seinem Kopf verstärkt hörte. Alle seine Haare, auch sein Schamhaar, schienen steif geworden zu sein und sich zu sträuben.
Dort unter dem Bett hatte Johnny fast eine Viertelstunde lang gekreischt und war dann ebenso abrupt verstummt, wie er angefangen hatte. Sein ganzer Körper erschlaffte. Clay musste seinen Kopf gegen Johnnys Seite drücken (ein Arm des Jungen hatte sich trotz des äußerst beengten Raums irgendwie über seinen Hals geschlängelt), um sich davon zu überzeugen, dass er noch atmete.
Er hatte Johnny schlaff wie einen Postsack hervorgezogen und den staubigen, schmutzigen Jungen dann wieder ins Bett gepackt. Hatte noch fast eine Stunde lang neben ihm wachgelegen, bevor er selbst in unruhigen Schlaf gefallen war. Morgens hatte er das Bett abermals für sich allein gehabt. Johnny war wieder darunter gekrochen. Wie ein geprügelter Hund, der sich den kleinstmöglichen Zufluchtsort suchte.
6
Sie waren jetzt in jenem behaglichen Hausmeisterhäuschen neben dem Holzfällermuseum Springvale. Hier gab es reichlich zu essen, es gab einen Holzofen, es gab frisches Wasser aus der Pumpe. Es gab sogar eine chemische Toilette (die Johnny allerdings nicht benutzte; Johnny benutzte den Garten hinter dem Haus). Alle modernen Annehmlichkeiten von circa 1908 waren vorhanden.
Es war eine ruhige Zeit gewesen, wenn man von Johnnys nächtlichen Schreikrämpfen absah. Clay hatte Zeit zum Nachdenken gehabt, und als er jetzt hier am Wohnzimmerfenster stand und den die Straße entlangwirbelnden Schnee beobachtete, während sein Sohn in seinem kleinen Schrankversteck schlief, wurde es Zeit, zu erkennen, dass die Zeit des Nachdenkens vorbei war. Nichts würde sich ändern, was er nicht selbst
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