Puppenspiele
verärgert.«
Clarissa versuchte, ruhig durchzuatmen. Es war gut, dass Niklas mit ihr sprach. Dadurch gewann sie Zeit. Sie wusste nicht, was er vorhatte. Aber sie fühlte Todesangst. »Und die anderen? Was war mit den anderen?«
»Als Sarah sich als Fehlgriff erwies, wurde mir klar, dass nur meine Halbschwestern aus der Samenbank meinen hohen Anforderungen genügen konnten. Wir sind schließlich eine genetische Elite. Ich habe sehr viel Zeit und Geld – deins übrigens – darauf verwendet, meine Halbschwestern aufzutreiben. Letztlich waren sie fast alle eine Enttäuschung. Sie wollten nicht akzeptieren, was sie sind: künstliche Wesen. Sowohl körperlich als auch geistig perfekt, eher Maschine als Mensch. Also habe ich ihnen den Spiegel vorgehalten. Und ihnen das Herz, diese alberne Metapher für Menschlichkeit, entfernt.«
»Sind sie jetzt alle tot? Ist es vorbei?« Clarissa zog fröstelnd die Bettdecke höher. Sie sah zur Zimmertür. Es gab keine Chance, den Flur zu erreichen. Niklas saß im Weg.
»Ich werde der Sache jetzt ein Ende bereiten. Denn weißt du, was ich eingesehen habe? Der einzige Mensch, der so kalt und gefühllos ist wie ich, das bist du.« Niklas lachte laut auf: »Deswegen bist du auch der einzige Mensch, der es auf ewig mit mir aushalten kann. Als Mutter bist du doch schon von Natur aus dazu verdammt, oder? Denn es muss ja eine Verdammnis sein, so etwas wie mich zu lieben.« Niklas stand vom Sessel auf, beugte sich vor und küsste Clarissa auf den Mund. »Liebst du das, was Gott nicht gewollt hat? Liebst du mich, Mama?«
Clarissa schlug ihn mit beiden Fäusten. Langsam wurde ihr klar, worauf der Besuch hinauslief. Sie war halb wahnsinnig vor Angst. »Du bist verrückt, du bist ja komplett verrückt!«, schrie sie.
Niklas glitt mit seinem Zeigefinger Clarissas Hals entlang, hinunter zum Dekolleté. »Genie und Wahnsinn liegen eben eng beieinander.« Als er mit dem Zeigefinger in Clarissas Herzgegend gelandet war, tippte er kurz darauf.
Sie erschrak zu Tode. »Hau ab, hau endlich ab!«
Niklas zog Clarissa an den Haaren hoch und zischte ihr zu: »Nein, Mutter. Heute gehen wir gemeinsam. Der letzte Gang von Schöpfer und Geschöpf! Du wirst mich nicht noch einmal verlassen. Was ist dir lieber? Von deiner schicken Dachterrasse hüpfen oder erwürgt werden? Ich kann mich einfach nicht entscheiden. Der Sprung wäre eine hübsche Reminiszenz an Beatrix. Andererseits würde ich dich wahnsinnig gerne eigenhändig erwürgen. Und dir dann das Herz herausnehmen. Ist schließlich ein recht überflüssiges Organ in deinem Körper. Oder soll ich es dir bei lebendigem Leib herausschneiden? Keine Panik, du wirst nicht viel spüren. Unsere Herzen sind doch so gefühllos wie überflüssig, nicht wahr, Mutter?«
Im Büroraum auf der anderen Straßenseite wurde Christian plötzlich klar, was nicht stimmte: »Das ist ein anderer als eben! Der hier ist viel größer! Zugriff, los, Zugriff!«
Patrick, Hannes und Christian stürmten gleichzeitig zum Fahrstuhl. Kratz griff zum Fernglas. Die Wolken vor dem Mond hatten sich vollständig verflüchtigt und gestatteten ihm eine einigermaßen gute Sicht. Hektisch stellte er eine Handyverbindung zu Christian her. »Sie sind noch im Schlafzimmer. Diese Wedekind rutscht bettelnd auf dem Boden rum. Beeilt euch!«
Unten auf der Straße trafen gerade zwei Beamte ein, die Hannes angefordert hatte, um Kratz und die Frauen in Verwahrung zu nehmen. Sie wurden beauftragt, Verstärkung zu rufen und den Hauseingang zu sichern.
Die Frauen oben im Büro konnten durch Kratz’ Handylautsprecher alles mit anhören. Sybille Weininger nahm ihre Waffe aus der Handtasche. Christian hatte in der Hektik versäumt, sie ihr abzunehmen. Sie entsicherte die RG 70 Ladystar und warf einen entschlossenen Blick zu Petra und den anderen Frauen: »Ich nehme den Hintereingang, falls es einen gibt.« Petra, Evelyn Kopper und Madame Lacour sahen sich kurz an und folgten Sybille.
Kratz wollte widersprechen. Er war der Mann, er sollte mit Sybille Weiningers Minipistole den Hintereingang sichern … Doch bevor Kratz den Kavalier geben konnte, waren die Frauen schon außer Hörweite.
Im Gebäude gegenüber wiesen sich Christian und die Düsseldorfer Beamten beim Concierge aus. Der etwa sechzigjährige Mann gab ihnen ängstlich seinen Zweitschlüssel zu Wedekinds Penthouse und versprach, sofort den Hintereingang des Gebäudes abzuschließen und sich dann in seine Kaffeeküche zurückzuziehen. Kaum
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