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Puppentod

Titel: Puppentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Winter
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allerdings nicht spätabends oder mitten in der Nacht, sondern dann, wenn sie Stubenarrest oder keine Lust auf Hausaufgaben hatte. Ihr Zimmer lag im ersten Stock, und davor stand ein Apfelbaum. Hinauszuklettern war kein Problem für sie. Wir nahmen an, dass sie zu ihrer Freundin laufen und ihr die Puppe zeigen wollte, denn die Puppe war ebenfalls weg. Bei ihrer Freundin allerdings kam Lisa nie an.«
    »Können Sie sich an den Namen der Freundin erinnern?«, fragte Michael.
    Stiegler überlegte. »Krämer, hieß sie … Sabine Krämer. Sie wohnte nur zwei Häuser weiter und ging mit Lisa in dieselbe Klasse. Wir haben das Mädchen natürlich befragt, ebenso seine Eltern. Wir haben alle befragt,
die Lisa kannten. Aber die Ermittlungen blieben ohne Erfolg.«
    »In dieser Nacht gab es noch einen anderen Vermisstenfall«, sagte Michael. »Ein Frank Berger aus Starnberg verschwand spurlos. Wissen Sie darüber etwas?«
    Stiegler schüttelte den Kopf. »Nein, von einem Fall Berger habe ich nie gehört. Und auch zu Lisa Marie gibt es leider nicht viel mehr zu sagen.«
    Daraufhin steckte Michael das Stück Tomate in den Mund, das er noch in der Hand hielt, und sagte: »Sie haben mir sehr geholfen.«
    »Wenn Sie meinen«, erwiderte Stiegler achselzuckend. Doch etwas schien ihn noch zu beschäftigen, denn er kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und sagte nach einer Weile: »Wissen Sie, was wirklich merkwürdig war in dieser Nacht?«
    »Nein«, entgegnete Michael gespannt.
    »Dass sich der Puppendoktor erhängt hat«, fuhr Stiegler fort. »In derselben Nacht, in der Lisa Marie verschwand, erhängte sich ein alter Mann in einem kleinen Haus gegenüber der Waldkirche an einem Deckenhaken in seinem Wohnzimmer. Schon damals habe ich nach einem Zusammenhang gesucht, aber allem Anschein nach gab es keinen. Dabei hätte ich geschworen, dass der Tod des Puppendoktors irgendetwas mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun hat. Ich hatte das in der Nase, wie man so schön sagt. Die Kollegen aber haben mich ausgelacht, und es gab ja tatsächlich keinen Beweis. Ein einsamer alter Mann hängt sich auf, und ein kleines Mädchen verschwindet.

    Solche Zufälle gibt es, ohne Zweifel. Doch das Haus der Elberts stand nicht weit vom Haus des Puppendoktors entfernt. Nur fünf Minuten zu Fuß, wenn Sie die Abkürzung durch den Wald nehmen. Und Lisa Marie hat den Puppendoktor oft besucht, weil sie den alten Mann sehr gern mochte. Was, wenn sie gar nicht zu ihrer Freundin, sondern dorthin gelaufen ist? Aber wie ich schon sagte, für diese Vermutungen gab es keine Beweise. Deshalb haben wir uns auch nicht weiter damit beschäftigt.«

    Michael hatte in dieser Nacht sehr schlecht geschlafen. Ständig war er aufgewacht und hatte geglaubt, Lisa sei gerade aus dem Zimmer geschlichen. Doch seine Befürchtungen hatten sich nicht bestätigt. Sie war nicht weggegangen. Sie hatte die ganze Nacht neben ihm gelegen und so tief und fest geschlafen, wie sie auch jetzt noch schlief. Michael, der bereits hellwach war, beobachtete sie dabei. Das zarte Morgenlicht umschmeichelte ihr Gesicht. Sie sah wunderschön aus, und er hätte sie so gerne berührt - auch wenn sie eigentlich eine Fremde war. Er kannte ihren Namen nicht und auch nicht ihre Geschichte und wusste nicht, woher sie kam und welche Pläne sie verfolgte. Sie war tatsächlich zu einer Fata Morgana geworden, zu einem Trugbild, das nicht existierte. Alles war nur Illusion und trotzdem so real, weil sie neben ihm lag und er sie in den Arm nehmen und küssen konnte. Er liebte sie, obwohl er das Gefühl hatte, im Augenblick zwischen den Welten zu stehen - inmitten von Wahrheit und Täuschung, tief in einem dichten
Nebel, in dem das eine vom anderen nicht zu unterscheiden war.
    Es war inzwischen hell geworden und das Zimmer überflutet vom Morgenlicht. Ein Sonnenstrahl tanzte auf Lisas Wange und holte sie aus dem Schlaf. Vorsichtig blinzelte sie in den hellen Raum. Als sie jedoch bemerkte, dass Michael sie beobachtete, schlug sie ihre Augen auf und sah ihn an, zärtlich und traurig, unendlich traurig. Und sagte kein einziges Wort. Auch Michael schwieg und erwiderte ihren Blick, während ihre Hände sich zaghaft annäherten und ihre Finger sich sanft berührten. So lagen sie minutenlang schweigend nebeneinander, bis Lisa ihm plötzlich ihre Hand entzog, aufstand und ins Bad ging.
    Er würde sie verlieren. Zum ersten Mal spürte er das ganz deutlich, und es machte ihm Angst. Er hatte das Gefühl, eine gewaltige

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