Puppentod
wieder nicht.
Daraufhin trat Michael ein, schloss die Tür hinter sich und ging zu ihr.
»Guten Tag, Frau Elbert, mein Name ist Michael Westphal«, stellte er sich vor. »Ich kannte Ihre Tochter.«
»Meine Maria?«
Ihre Stimme klang schwach und zittrig, ihre faltigen Hände zuckten vor Aufregung. »Sie sind ein Freund von meiner Maria?«
»Nein«, sagte er. »Ich war kein Freund von Maria. Ich habe sie nur flüchtig gekannt.«
»Wissen Sie, warum sie mich so lange nicht besucht hat?«, fragte die alte Dame, während sie aus dem Fenster
hinaus auf die Straße sah. »Jeden Tag sitze ich hier und warte auf sie. Ob sie mich vergessen hat?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Michael unbeholfen und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Ich bin hier, weil ich etwas über Ihre Enkelin Lisa Marie wissen möchte.«
»Über Lisa Marie?« Ihre trüben Augen blickten ihn traurig an. »Aber unsere Lisa ist doch tot.«
»Soviel ich weiß, wird sie vermisst«, erwiderte er verblüfft.
Johanna Elbert aber schüttelte den Kopf. »Sie ist tot. Das habe ich immer gesagt. Ich habe das gespürt, auch wenn es niemand glauben wollte. Sie hat in dieser Nacht den Teufel getroffen. Der Teufel selbst hat es mir im Schlaf zugeflüstert: Lisa Marie ist tot .«
Sie war jetzt sehr aufgeregt. Ihre Mundwinkel zuckten, und in ihrem schmalen Gesicht zeichneten sich unter der faltigen, pergamentartigen Haut rote Flecke ab. Er ließ ihr ein wenig Zeit, sich wieder zu beruhigen. Dann fragte er: »Können Sie mir sagen, was in dieser Nacht geschehen ist?«
Doch sie antwortete nicht, sondern starrte nur aus dem Fenster. Deshalb wiederholte er seine Frage: »In dieser Nacht, Frau Elbert, was war in dieser Nacht?«
Nun schien sie zu überlegen und sagte nach einer Weile: »Das war die Nacht, in der sich der Puppendoktor aufgehängt hat.«
»Der Puppendoktor?«, fragte Michael erstaunt.
»Ja.« Sie sah ihn verwundert an. »Ich habe das auch nie verstanden. Er war ein so lebenslustiger alter Mann
und keineswegs einsam, weil er allen Kindern die Puppen repariert hat. Ich habe nie verstanden, wieso er sich aufgehängt hat. In seinem Wohnzimmer. An einem Haken an der Decke.«
»Wo hat der alte Mann denn gelebt?«, wollte Michael wissen, obwohl diese Frage sich erübrigte.
»In dem Haus an der St.-Anna-Kapelle«, antwortete Frau Elbert.
»Und wie hieß der Puppendoktor? Wissen Sie das noch?«
Sie schüttelte wieder den Kopf. »Nein«, sagte sie und fragte gequält: »Warum nur besucht meine Maria mich nicht mehr? Sie hat mich bestimmt vergessen, nicht wahr?«
Liebevoll strich er über ihre knochigen, ineinandergefalteten Hände, die in ihrem Schoß ruhten, und erwiderte mit einem Kloß im Hals: »Nein, das glaube ich nicht.«
Tränen liefen über ihre eingefallenen Wangen. »Wir waren damals so verzweifelt, Sie können sich das gar nicht vorstellen. Unsere Lisa war unser Sonnenschein, und als sie weg war, war es nur noch dunkel um uns herum. Es war, als nähme die Nacht, in der sie verschwand, kein Ende. Es wurde nicht mehr hell, für uns wurde es einfach nicht mehr Tag.« Sie weinte leise vor sich hin. Michael gab ihr ein Papiertaschentuch aus einer Packung, die auf dem runden Tisch lag. Dann zog er ein Foto aus seiner Jackentasche, das er in der Dominikanischen Republik aufgenommen hatte. Es zeigte Lisa am Strand. Ihr mahagonifarbenes Haar glänzte in der Sonne,
auf ihrer dunklen Haut perlten die Wassertropfen, und sie lachte in die Kamera.
»Könnte das Ihre Enkelin sein?«, fragte er, während er ihr das Foto zeigte.
Sie setzte die Brille auf, die sie an einer Kette um ihren Hals trug, und betrachtete es. »Nein. Das kann nicht unsere Lisa sein. Unsere Lisa sah aus wie ein Engel. Sie hatte blonde Locken und eine schneeweiße Haut.« Wieder blickte sie ratlos aus dem Fenster. »Ich verstehe das nicht. Meine Maria ist sonst jeden Tag gekommen. Sie hat mir immer Blumen mitgebracht, und nun habe ich keine einzige Blume mehr. Sie waren alle verwelkt. Ich musste sie wegwerfen. Wo ist sie denn nur? Verstehen Sie das?« Bekümmert fügte sie hinzu: »Wenn Sie sie sehen, sagen Sie ihr bitte, dass ich auf sie warte.«
»Das werde ich tun«, entgegnete Michael leise.
Als er später auf dem Weg nach Hause an einem Blumenladen vorbeikam, kaufte er einen Strauß gelber und orangefarbener Tulpen und fuhr noch einmal zurück. Frau Elbert war inzwischen in ihrem Lehnstuhl eingenickt. Er ließ sich von einer Schwester eine Vase bringen, stellte die Blumen
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