Puppentod
groß und prall, und andere wiederum sahen aus wie Birnen, schimmerten gelb und grün oder violett wie eine Aubergine.
Ohne sich nach Michaels Anliegen zu erkundigen, zupfte Stiegler eine kleine, runde Tomate von einem Strauch - eine Zuckertraube, wie er Michael erklärte - und gab sie ihm zum Probieren. Es war die süßeste Tomate, die Michael je gegessen hatte. So süß, dass sie wie ein Stück Würfelzucker schmeckte. Er fand das nicht sehr angenehm, trotzdem lobte er Stieglers Züchtung in den höchsten Tönen.
Stolz lächelnd fragte Herr Stiegler daraufhin: »Was führt Sie zu mir, junger Mann?«
»Ich recherchiere im Fall Lisa Marie Elbert«, sagte Michael. »Und weil Sie damals die Ermittlungen geleitet haben, würde ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
Stiegler zupfte erneut eine Tomate von einem Strauch. Diesmal eine, die so länglich aussah wie ein kleiner Stab. Außerdem war sie nicht rot, sondern grün und gelb. Auch diese musste Michael probieren. Sie schmeckte nicht ganz so süß wie die vorhergehende, dafür aber um einiges fruchtiger.
»Lecker«, sagte er.
»Eine Green Zebra«, erklärte Stiegler. »Sie stammt ursprünglich aus Amerika. Wussten Sie, dass es vor der Entdeckung Amerikas dort schon über zweihundert Sorten Tomaten gab?«
»Nein«, entgegnete Michael. So detailliert hatte er sich mit Tomaten noch nie beschäftigt. Er bevorzugte sie als Soße, zu Spaghetti und Parmesankäse.
»Sind Sie von der Presse?«, fragte Herr Stiegler.
»Nein, ich recherchiere für meine Abschlussarbeit. Ich studiere Psychologie und widme mich dem Komplexitätsmanagement. Mein Thema lautet: Psychologische Erkenntnisse zum Umgang mit komplexen Problemstellungen unter Einbeziehung kreativer Problemlösungen - ein sehr spannendes Thema«, antwortete er.
»Aha«, sagte Stiegler.
»Wirklich sehr spannend«, betonte Michael mit todernster Miene und fuhr fort: »Aus diesem Grund möchte ich anhand spektakulärer unaufgeklärter Fälle herausfinden, was Ermittler bewegt, diese an einem bestimmten Punkt abzubrechen.«
»Wir haben den Fall nicht abgebrochen«, entgegnete Stiegler, während er eine große, gelbe, birnenförmige Tomate pflückte, zu einem kleinen, scharfen Messer griff
und ein Stück aus ihrem Fleisch herausschnitt, das er Michael anbot. »Wir haben nur die aktive Suche nach dem Mädchen eingestellt, weil wir auch zehn Tage nach seinem Verschwinden nicht einen einzigen Hinweis hatten.«
»Sie hatten tatsächlich keine Spur?«, fragte Michael neugierig. »Es war also wirklich so, wie es in der Presse stand?«
Stiegler nickte, erwiderte jedoch nichts.
Deshalb sagte Michael: »Lisa Marie verschwand am Tag ihres zehnten Geburtstages. Glauben Sie, dass ihr Geburtstag mit dem Verschwinden in unmittelbarem Zusammenhang stand?« Er wollte Herrn Stiegler irgendwie in das Thema verwickeln. Das schien ihm zu gelingen, denn plötzlich wurde der ehemalige Kriminalhauptkommissar gesprächig.
»Genau da lag ja der Hase im Pfeffer«, sagte er, »denn hätte sie nicht diese Puppe geschenkt bekommen, wäre das alles wohl nie passiert.«
Jetzt wurde Michael hellhörig. »Eine Puppe? Was für eine Puppe?«
»Eine Puppe in einem weißen Spitzenkleid, das aussah wie ein Brautkleid«, erzählte Stiegler. »Sie hat sie von ihrer Mutter bekommen. Die arme Frau hat sich deswegen die schlimmsten Vorwürfe gemacht. Aber wer kann so etwas schon ahnen? Maria Elbert, die Mutter der kleinen Lisa Marie, hatte ein kleines Geschäft in München, für Wolle und Strickwarenartikel, und auch eine Angestellte, die am Geburtstag ihrer Tochter aber krank wurde. Also musste sie bis zum Abend im Geschäft bleiben,
während die kleine Lisa wie immer von ihrer Großmutter beaufsichtigt wurde. Weil Maria Elbert nun aber ein schlechtes Gewissen hatte, hielt sie auf dem Heimweg an einem Spielzeugladen und kaufte eine Puppe, die ihre Tochter sich gewünscht hatte.
Als die Mutter am Abend mit dem Geschenk nach Hause kam, war die kleine Lisa darüber so erfreut, dass sie die Puppe sofort ihrer besten Freundin zeigen wollte. Doch es war schon spät, deshalb hat die Mutter es verboten und Lisa zu Bett gebracht. Am nächsten Morgen war das Bett leer, und das Fenster stand offen. Jedoch gab es keinerlei fremde Spuren und keinen Hinweis darauf, dass es gewaltsam aufgebrochen wurde. Aus diesem Grund stellten wir die Theorie auf, dass Lisa das Fenster selbst geöffnet und hinausgeklettert war. Das hatte sie, laut der Oma, schon öfter gemacht,
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