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Puppentod

Titel: Puppentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Winter
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wenn er wollte. Das war eines der wenigen Dinge, die er von seinem Vater geerbt hatte. So fügte er sanft, aber entschieden hinzu: »Ich bestehe darauf, dass du morgen mit mir essen gehst, morgen Mittag!«
    »Heißt das, ich habe keine andere Wahl?«, fragte sie.
    Er lächelte. »Leider nicht.«
    »Dann erwarte ich dich um zwölf«, sagte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen flüchtigen Kuss. Ganz zart berührten ihre Lippen die seinen.
    »Bis morgen«, hauchte sie.
    »Bis morgen«, sagte auch er und glaubte, auf Wolken zu schweben, als er die unzähligen Treppenstufen nach unten lief.

    Während der Fahrt nach Hause dachte Michael über das einzige Problem des morgigen Tages nach, das es gab - und das hieß Mr Ming.
    Ein Besuch bei Dr. Kolberg im Testinstitut stand an, wo Mr Ming Einblick in die Testergebnisse von Strycon, MediCares neustem Medikament gegen Magenverstimmung, nehmen sollte. Es war eigens für den chinesischen Markt entwickelt worden. Und Mr Ming brannte darauf, es herauszubringen, weil eine Schweizer Firma ein vergleichbares Medikament plante. Mr Ming wollte keine Zeit verlieren und war nach Deutschland gekommen, um sich über den Stand der Dinge zu informieren und die Verhandlungen zum Abschluss zu bringen.
    Es war wirklich zum Verzweifeln, dachte Michael. Hätte Mr Ming nicht nächste Woche kommen können? Warum ausgerechnet jetzt? Wie sollte er Lisas Herz erobern, wenn ihm keine Zeit dafür blieb?
    Er trat auf die Bremse. In letzter Sekunde registrierte er, dass die Ampel auf Rot gesprungen und gegenüber eine kleine Kamera installiert war. Das hätte ihm noch gefehlt.
    Er schaltete das Radio aus. Die Musik machte ihn nervös. Er musste sich konzentrieren und überlegen, was er tun sollte. Sein Vater würde explodieren, wenn er morgen nicht anwesend war. Beim bloßen Gedanken daran bekam er schon einen Schweißausbruch. Denn er war ein sehr pflichtbewusster Mensch und hatte die Erwartungen seines Vaters bisher immer erfüllt. Dazu gehörte, dass er Betriebswrtschaft studiert hatte - und nicht Germanistik
- und dass er für zwei Jahre nach Amerika und für weitere drei nach Schanghai und Hongkong gegangen war, um alles über die Pharmaindustrie zu lernen. Seiner Verantwortung gegenüber dem Familienunternehmen war er sich stets bewusst gewesen.
    Er bog rechts ab in Richtung Starnberg, fuhr ein Stück durch den Possenhofener Wald, bis ihn die Straße wieder an den See hinunterführte und vor ihm die weiße Mauer auftauchte, hinter der sich die Villa seiner Familie befand.
    Dann griff er zur Fernbedienung und gab den fünfstelligen Zahlencode ein, woraufhin sich lautlos die zwei Flügel des schmiedeeisernen Tores öffneten. Langsam fuhr er die beleuchtete, mit Kieselsteinen belegte Auffahrt entlang. Dabei musste er daran denken, dass im Sommer hier überall Blumen blühten, was Lisa bestimmt gefallen würde. Alles hier würde ihr gefallen, da war er sich ganz sicher - die weiße Villa, das Seegrundstück und die alte Trauerweide im Garten unten am See, unter der man in lauen Sommernächten sitzen und aufs Wasser schauen konnte.
    Er fuhr den Wagen in eine der Garagen. Normalerweise parkte er immer vor dem Haus, aber dort stand heute die Mercedes-Limousine seines Vaters. Mr Ming war also schon eingetroffen.
    Hinter den hohen Sprossenfenstern der Villa erstrahlte warmes, helles Licht. Das Haus hatte trotz seiner Größe und der Eleganz, mit der seine Mutter es eingerichtet hatte, etwas Gemütliches und war für ihn ein Ort der Geborgenheit, was auch an der behüteten und unbeschwerten
Kindheit lag, die er hier verbracht hatte. Nur war das Haus damals nicht so groß und komfortabel gewesen. Zu einem hochherrschaftlichen Anwesen wurde es erst nach dem Tod seines Großvaters, als sein Vater die Firma übernommen und die Umsätze vervielfacht hatte. Ohne Zweifel war sein Vater ein sehr guter Geschäftsmann, ein guter Vater aber war er nie gewesen.
    Michael schloss die Eingangstür auf, und ein köstlicher Duft nach gebratenem Fisch strömte ihm entgegen. Seine Mutter hatte ihre Kochkünste wieder einmal unter Beweis gestellt. Sie war eine fantastische Köchin, aber eine noch bessere Konditorin. Das war früher ihr Beruf gewesen, und bis heute hatte sie eine solche Freude am Backen, dass sie fast täglich irgendwelche Kunstwerke aus Sahne, Teig, Schokolade und Marzipan zauberte. Im Grunde ihres Herzens, das wusste Michael, bereute sie es tief, für seinen Vater ihren Beruf aufgegeben zu

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