Der Kreis der Sechs
1
Etwas war nicht in Ordnung. Sie spürte es in dieser Nacht, sobald sie den viereckigen Innenhof betreten hatte. Das Wetter war, ungewöhnlich für Oktober, geradezu mild, und doch hing ein beißender Geruch nach Holzrauch in der Luft. Aber das war nicht der Grund, warum die Situation ihr seltsam erschien. Es waren die verlassenen Wege. Obwohl sich Phoebe noch nicht wirklich an den Ort gewöhnt hatte, erwartete sie, an einem Freitagabend um acht Uhr mehr als nur ein paar Leute den Campus überqueren zu sehen.
Sie bog nach links ab, da sie vorhatte, das Gelände durch das östliche Tor zu verlassen, als sie erschrocken feststellte, wo alle abgeblieben waren. Um die vierzig Leute – sowohl Studenten als auch Fakultätsangehörige – hatten sich vor der Curry Hall versammelt. In den zwei Monaten seit sie am Lyle College war, hatte sie bemerkt, dass die Kids sich oft vor diesem speziellen Studentenwohnheim entspannten, Frisbeescheiben warfen oder auf dem Hang des kahler werdenden Rasens lümmelten, doch heute Abend standen alle mit verschränkten Armen und geraden Rücken da, als warteten sie auf Neuigkeiten.
Als sie näher kam, sah sie, was ihrer Aufmerksamkeit auf sich zog: Sowohl zwei Beamte der Campuspolizei als auch ein Polizist aus der Stadt sprachen mit einem Mädchen mit kastanienbraunem Haar, das mit den Tränen zu kämpfen schien. Der Studiendekan – Tom Soundso – war auch dort, stand mit gesenktem Kopf da und hörte dem Mädchen aufmerksam zu.
Phoebes erste Reaktion war, einfach weiterzugehen. Es gab Sachen, die sie in Pennsylvania zu tun hatte, aber sich in das Drama von jemand anderem hineinziehen zu lassen, gehörte nicht dazu.
Sie fing an, wegzugehen, hielt dann aber an. Sie wusste, dass sie zehn Minuten später bereuen würde, nicht herausgefunden zu haben, worum hier so viel Aufhebens gemacht wurde.
Sie bewegte sich wieder in Richtung der Menschenansammlung und stellte sich unauffällig neben zwei junge Männer ganz am Rand, die ebenfalls aussahen, als wären sie nur stehen geblieben, um zu sehen, was vor sich ging.
»Was ist los?«, fragte sie den einen der beiden, der näher bei ihr stand. Er sah sie an und zuckte die Achseln.
»Keine Ahnung – ich bin gerade erst gekommen«, sagte er. Er wandte sich an den Typen zu seiner Rechten, dessen blonde Haare stoppelig kurz geschnitten waren. »Irgendeine Ahnung, was los ist?«, fragte er.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte der andere Typ, »aber ich denke, dass es etwas mit dem Mädchen namens Lily Mack zu tun hat. Das dort drüben ist ihre Mitbewohnerin.«
Phoebe brauchte einen Augenblick, um den Namen einzuordnen. Es war niemand aus den zwei Kursen, die sie gab.
»Danke«, sagte sie und schlängelte sich zum vorderen Teil des Menge durch, in der Hoffnung, dort mehr Informationen zu bekommen. Eine Sekunde später wurde ihr klar, dass sie nun direkt hinter Val Porter stand, deren langes, vorzeitig ergrautes Haar sogar im Dunkeln schimmerte. Val war Professorin für Frauenstudien (women’s studies), die ihr Büro gleich den Flur hinunter von dem Büro hatte, das Phoebe in diesem Semester besetzt hielt, und obwohl Val oberflächlich betrachtet durchaus höflich war, hatte Phoebe seit ihrer ersten Begegnung eine leichte Geringschätzung festgestellt. Vielleicht, dachte Phoebe ironisch, denkt Val, dass ich durch mein Verhalten die Frauenbewegung zurückgeworfen habe.
Phoebe fing an, ihre Position zu verändern, da sie heute Abend nicht in der Stimmung für einen Val-Moment war. Doch unheimlicherweise schien die Frau ihre Anwesenheit zu spüren und drehte sich um. Die Bewegung ließ den Duft von Patschuli von Vals Haut aufsteigen.
»Hallo Phoebe«, sagte Val. Da war ein leicht missbilligender Klang in ihrer Stimme, als wäre Phoebe zu spät in ein wichtiges Treffen geplatzt.
»Hi Val«, sagte sie freundlich. Ihre Strategie in Lyle war, auf nett zu machen, nicht unnötig Wellen zu schlagen. Davon hatte sie im letzten Jahr genug gehabt in ihrem Leben. »Gibt es hier irgendein Problem?«
»Eine Studentin wird vermisst«, sagte Val unverblümt. »Lily Mack – sie ist im vorletzten Jahr. Ihre Mitbewohnerin hat es vor eine Weile der Campuspolizei gemeldet. Keiner hat sie seit gestern Abend gesehen.«
»Wie schrecklich«, sagte Phoebe. Die Enthüllung traf sie wie ein Schnitt beim Rasieren, und sie stellte fest, dass sie nach Luft schnappte.
»Nun, Kids in dem Alter können manchmal ziemlich unverantwortlich sein«, sagte Phoebe, nachdem sie
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