Purgatorio
die ihn verlor? Verlass mich nicht noch einmal, Simón, Liebster. Ich werde nie mehr von deiner Seite weichen. Ich werde dich nicht allein gehen lassen. Die wahre Identität der Menschen sind die Erinnerungen, beruhigte sie sich. Ich erinnere mich an sein ganzes Gestern, als wäre es jetzt, sagte sie sich, woran er sich von mir erinnert, wird weiterhin zu seinem wirklichen Wesen gehören. Erinnere dich daran, bring es mit, verlier es nicht.
Emilia stand auf, blieb vor ihm stehen und schaute ihm entschlossen in die Augen.
Lieber, mein Liebster, wo warst du?
Er lächelte ihr ohne Verwirrung oder Überraschung zu, schaute zurück und verabschiedete sich von den Skandinaviern. Dann blickte er Emilia an, als hätte er sie am Vortag gesehen.
Wir müssen reden, nicht wahr? Gehen wir raus.
Er gab keine einzige Erklärung ab, fragte nicht, wie es ihr gehe, was sie in diesen ganzen Jahren erlebt hatte. Keine Spur von dem höflichen, aufmerksamen Simón, mit dem sie gelebt hatte. Emilia zahlte den Brandy, hakte ihren Mann unter und ging mit ihm auf die Straße hinaus.
Seit Jahren war jede von Emilias Handlungen eine Vorbereitung auf den Moment, da sie Simón wiedersehen würde. Sie bemühte sich, elastisch zu bleiben und so schön zu sein, wie sie noch nie gewesen war. Dreimal wöchentlich ging sie ins Fitnesscenter, und sie hatte noch immer straffe Muskeln, außer um die Hüften und im Gesicht, wo die Fettansammlung unmöglich zu kontrollieren war. Seit sie nach Highland Park in New Jersey gezogen war, hielt sie an einer strikten Routine fest. Diese Routine erschien ihr weise: Mahlzeiten und Duschen immer zur selben Zeit, das Verfolgen der Minuten, wie sie kamen und gingen, so, wie die Liebe gekommen war, um wieder zu gehen. Manchmal träumte sie nachts von der verlorenen Liebe. Sie hätte diese Träume gern vermieden, aber gegen etwas Unwirkliches war nicht anzukommen. Vor dem Einschlafen sagte sie sich immer wieder: Nur was wirklich ist, hat Sinn.
Bei Hammond hatte sie vierzig Minuten fürs Mittagessen, obwohl ihr eine halbe Stunde vollauf genügt hätte. Die anderen Kartographen verzehrten ihre mitgebrachten Sandwiches in der Schutzlosigkeit der Büros und vergnügten sich damit, die Vektoren zu verlegen: imaginäre Flüsse, die dem Verlauf von Central Park West folgten, Eisenbahnlinien zwischen den Ausfahrten 13 A und 15 W des Turnpike von New Jersey. Mehr als einmal hatte sie gesehen, wie sie ihre Häuser in ferne Bezirke versetzten, ans Ufer lauwarmer Meere, denn ein Kartograph kann, wenn er will, die Richtung der Welt verändern.
Auch sie hatte mit zwölf Jahren die Karte einiger Städte im Relief gezeichnet und dabei die schräge Vogelperspektive imitiert. Wo die Häuser niedrig waren und der Boden gleichförmig, erfand sie gotische Kathedralen und zylindrische Berge, in deren Flanken der Wind Gesimse und Arabesken meißelte. Die breiten Geschäftsstraßen machte sie zu venezianischen Kanälen mit kleinen gebogenen Brücken über den Dächern, und in den Gärten der Kirchen öffnete sie unerwartete, von Kakteen gekräuselte Einöden, ohne Vögel oder Insekten, nur eine Prise Tod, die die Luft austrocknete. Die Karten hatten sie gelehrt, die Logik der Natur in die Irre zu führen, Illusionen zu schaffen, wo die Wirklichkeit am unüberwindlichsten schien. Vielleicht hatte sie, als sie an die Universität kam, nach langem Schwanken zwischen Geisteswissenschaften und Architektur aus diesem Grund der Kartographie zugeneigt, obwohl sie die zylindrischen Projektionen von Rand McNally und die Wahrnehmung von Mikrowellen nur schwer verstand. Als Studentin war sie begabt fürs Zeichnen, aber in den Berechnungen unbeholfen. Sie brauchte neun Jahre, um abzuschließen, was Simón, den sie heiraten würde, in sechs geschafft hatte.
Sie lernte Simón in einem Kellerlokal der Avenida Pueyrredón kennen, wo die Gruppe Almendra vor einem andächtigen Publikum mit den modernen Schlagern aufwartete, »Papieraugenmädchen«, »Anna schläft nicht«, »Gebet für ein schlafendes Kind«. Kaum berührten Emilias Finger zufällig die Simóns, spürte sie, dass sie in ihrem Leben keinen anderen Mann mehr brauchen würde, denn in ihm hatten alle Männer Platz; obwohl sie damals noch nicht einmal wusste, wie er hieß und ob sie ihn irgendwann wiedersähe. Eine bloße Berührung der Finger, und das hatte Wärme, Erfüllung, Glück bedeutet, das Gefühl, schon oft erlebt zu haben, was sie tatsächlich zum ersten Mal erlebte. In diesem
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