Purgatorio
sechzig Jahre lasteten.
An diesem Morgen war Emilia ohne Vorahnungen aufgestanden. Es bereitete ihr Vergnügen, sich im Bett noch ein wenig zu räkeln und mit sich allein zu sein, ehe sie zur Arbeit aufbrach. Das war der schönste Moment des Tages. Nach dem Duschen schminkte sie sich hingebungsvoll, obwohl sie wusste, dass sie es nur für sich tat. Im Verlauf der Stunden verschwand der Lippenstift allmählich, und von den Wimpern bröckelte in winzigen Körnchen die Tusche ab. Einmal wöchentlich verbrachte sie mindestens eine halbe Stunde beim Frisör, um sich auf den gefeilten Nägeln ein neues Muster anbringen zu lassen. Das letzte war ein Mosaik aus orangen und violetten Rhomben gewesen; vor zwei Tagen wurde es von diskreten hellblauen Wellen abgelöst. Ihr Frühstück bestand aus Toast und Kaffee, dazu las sie die Schlagzeilen der
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. Ihre einzige Freundin war Nancy Frears, die Bibliothekarin von Highland Park. Chela, ihre jüngere Schwester, lebte mit ihrem Mann und den drei Kindern im texanischen San Antonio, und obwohl sie sich zu den Geburtstagen und zum Thanksgiving-Donnerstag anriefen, hatten sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Als man sie vor zwei Jahren im Sommer an einem Leistenbruch operierte, war es Nancy und nicht Chela gewesen, die bei ihr blieb, ihr beim Duschen half und die Wohnung sauber hielt. Natürlich hätte sie zu verwandteren Geistern in Beziehung treten können, doch sie mochte das Leben, das sie lebte, nicht ändern. Zwei, drei Geographen der Rutgers University hatten sie, als sie sich im Zug nach Manhattan begegneten, ins Kino und zum Abendessen eingeladen. Sie unterhielt sich gern mit ihnen im Zug, aber nicht mehr. Sie fand, einen Film mit jemandem zu teilen sei fast, wie mit ihm das Bett zu teilen. Im Kino weinen, seufzen die Leute, stülpen ihre Gefühle nach außen. So weit durften die Rutgers-Geographen sie nicht kennen. Mit Nancy dagegen war ihr das einerlei. Ihre Gesellschaft war wie die einer Katze oder eines Kissens. Da Emilia für sie zudem ein unerreichbares Ideal an Feinheit verkörperte, spürte Nancy, dass sie bei ihr immer etwas lernte, auch wenn ihr Emilia Gedichte vorlas, die sie nicht verstand, oder sie in die kleinen Säle des Village-Kinos mitnahm, um sich die japanischen Klassiker von Mizoguchi anzusehen.
Nancys Lieblingsvers war eine Zeile von Ezra Pound, die sie zufällig in der Bibliothek gelesen hatte und deren verborgener Sinn, den sie in seiner Musik erriet, sie anzog:
Wie »bin ich hereingekommen«? War ich nicht du und Du?
Auch das englische Original war rätselhaft:
How »came I in«? Was I not thee and Thee?
Sie bat Emilia, ihr beim Enträtseln behilflich zu sein, und sie brauchten nicht einmal die Abfolge der Wörter zu ändern, um ein wenig Klarheit zu bekommen. Was beeindruckt dich an diesem Vers?, fragte Emilia. Das, was nicht gesagt wird, was aber zwischen den Worten des Gesagten zu erraten ist. Manchmal war die Freundin gar nicht so dumm.
Nancy hatte eine öde Ehe überlebt. Sid Frears, ihr Verstorbener, war Klebstoffverkäufer gewesen und hatte sie immer monatelang allein gelassen. Nach fünfzehn Jahren war er an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Nancy hatte nicht das geringste Interesse, ein neues Leben zu beginnen. Sie hatte eine Versicherung geerbt, die, in den Jahren der Hochkonjunktur zu einem festen Zins angelegt, einen jährlichen Ertrag von zweiundzwanzigtausend Dollar abwarf. Sie beschloss, nicht zu arbeiten. Ihre einzige Beschäftigung war freiwillig: Samstags von neun bis drei und dienstags sowie donnerstags von zehn bis vier saß sie in der Ausleihe der Bibliothek. Wozu brauche ich einen Job?, sagte sie. Um nicht allein zu sein? Zu denen gehöre ich nicht, Millie. Ich genüge mir selbst. Ich lese jede Woche
People
, höre die Beach Boys, und wenn ich einen fahren lassen will, lass ich einen fahren, und keiner sagt was.
Mehr als einmal ertappte Emilia sie dabei, wie sie Simóns Foto auf ihrem Nachttisch betrachtete. Sie verglich ihn mit Sid und schüttelte den Kopf. Du hast dich bestimmt sehr gut amüsiert mit ihm, nicht wahr, Millie?
Was he good in bed?
Emilia hätte ihr gern erzählt, sich den Sex mit Simón vorzustellen sei besser, als ihn gelebt zu haben, doch das würde sie niemandem sagen, niemandem – sie sagte es nicht einmal sich selbst. Manchmal, wenn sie vom Bingo zurückkamen, betrachtete Nancy Simóns breite Stirn, seine hellen, ehrlichen Augen, die kräftige Nase.
Er gleicht Clint Eastwood in
Dirty
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