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Purgatorio

Purgatorio

Titel: Purgatorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tomás Eloy Martínez
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unbekannten Körper befand sich die Karte ihres Lebens, die Darstellung des Universums, so, wie sie sie in einer taoistischen Enzyklopädie von 150  v.Chr. gelesen hatte: »Das runde Haupt ist das Himmelsgewölbe, die Füße sind die Erde, das Haar die Sterne, die Augen sind Sonne und Mond, die Augenbrauen der Große Bär, die Nase ist ein Gebirge, die vier Gliedmaßen sind die vier Jahreszeiten, und die fünf inneren Organe sind die fünf Elemente.«
    Nach dem Konzert schlenderten sie ziellos durch Buenos Aires. Simón nahm sie wie selbstverständlich bei der Hand, als kennte er sie seit eh und je. Erschöpft gelangten sie zu einem Lokal, doch das wollte gerade schließen, und es dauerte lange, bis sie ein anderes fanden. Emilia rief zweimal ihre Mutter an, um ihr zu sagen, sie solle sich keine Sorgen machen. Es wunderte sie nicht zu entdecken, dass sie beide Kartographie studierten und dass Karten sie nicht als Broterwerb interessierten, sondern eher als Codes, dank denen sie Gegenstände mittels ihrer Abbilder erkennen konnten. Das war selten bei jungen Leuten von gerade einmal fünfundzwanzig Jahren, einem Alter, wo man niemandem gleichen will, und sie fanden es erstaunlich, dass sie einander glichen. Es überraschte sie auch nicht, beim Schweigen zu erraten, was der andere dachte. Emilia hatte nichts zu verbergen, aber sie schämte sich, über sich selbst zu sprechen. Wie sollte sie erklären, dass sie immer noch Jungfrau war? Die meisten ihrer Freundinnen waren verheiratet und hatten Kinder. In einige Kameraden des Gymnasiums hatte sie sich flüchtig verliebt, zwei oder drei hatten sie geküsst und ihre Brüste berührt, aber als sie weitergehen wollten, hielt etwas Emilia zurück: der zu starke Atem, die schwelenden Furunkel, die fettigen Haare. Simón dagegen empfand sie wie eine Erweiterung des eigenen Körpers, und sie hätte sich schon am ersten Abend ausziehen und mit ihm schlafen können, wenn er sie darum gebeten hätte. Daran schien er jedoch nicht einmal zu denken. Er interessierte sich für sie auf Grund dessen, was sie sagte und was sie war, obwohl sie ihm noch kaum etwas über sich erzählt hatte. Er schien erpicht darauf zu sprechen. In seiner Jugend war er mit einigen Mädchen gegangen, nur weil er dachte, das gehöre sich so. Keine hatte er glücklich gemacht, und auch er konnte nicht glücklich werden, bis er drei Jahre zuvor eine Liebe erlebt hatte, die er für endgültig hielt.
    Ich habe sie fast genauso kennengelernt wie dich, sagte er. Wir sind im Parque Centenario zu einem Konzert von Almendra gegangen, und als Spinetta »Papieraugenmädchen« sang, habe ich den Refrain wiederholt und ihr in die Augen geschaut: »Lauf nicht weiter, bleib bis zum Morgengrauen.«
    Bei dieser Masche solltest du bleiben.
    Mit der Zeit hat dieses Lied seinen Charme verloren, und jetzt ist es bloß noch Kitsch. Aber bei diesem Mädchen hat es eingeschlagen. Alles lief so gut, dass wir sogar zusammenziehen wollten. Monatelang haben wir darüber nachgedacht. Wir hätten uns viele doppelte Kosten ersparen können.
    Ihr habt es ja wohl nicht nur wegen des Sparens tun wollen.
    Natürlich nicht. Wir waren füreinander geschaffen, das dachte ich. Wir haben im selben Büro gearbeitet, Karten und Graphiken für Zeitungen gezeichnet. Damals wurden Graphiken gut bezahlt. Meine Familie lebte in Gálvez, zwischen Santa Fe und Rosario, und ihre kam aus Patagonien, aus Rawson. Wir waren beide allein in Buenos Aires und hatten sehr wenig Freunde. Eines Abends rief ihr Vater an und bat sie heimzukommen. Die ältere Schwester hatte Lymphknotenkrebs, ein Hodgkin-Lymphom, und einen Rückfall erlitten. Die Chemotherapie schwächte sie, jemand musste sie pflegen. Ich ging mit zum Busbahnhof, um mich von ihr zu verabschieden. Sie weinte bitter bis zum Einsteigen, und ich weinte ebenfalls. Sie versprach, mich anzurufen, wenn sie dort wäre, und zurückzukehren, sobald die Behandlung vorüber wäre, in zwei, drei Wochen. Ich war tieftraurig, als wäre die Welt untergegangen. Am nächsten Tag rief sie mich nicht an und auch den ganzen Monat nicht. Ich wollte zu ihr fahren, wusste aber nicht, wie ich sie finden konnte. Damals war Rawson für mich ein beinahe unerreichbarer Ort, wie auf einem anderen Planeten. Allein in meiner Fünfzig-Quadratmeter-Wohnung zu bleiben war unerträglich. Ich vertrödelte meine Zeit auf der Straße, las in Cafés und irrte herum bis zur Erschöpfung. Es waren die ersten Wochen nach Peróns Rückkehr aus

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