Qual
Vordenkern zu wissen, in seiner Unschuld einen völlig neuen Jargon geprägt hatte – doch die Ideen waren unmißverständlich.
Der Aleph-Moment war genauso notwendig wie der Urknall. Ohne beide hätte das Universum niemals existieren können. Kaspar hatte davor zurückgescheut, die Ehre der Schlüsselfigur für sich zu beanspruchen – und hatte sich sogar geweigert, dem Erklärungs-Urknall höhere Priorität als dem physikalischen zuzuschreiben – doch der Artikel besagte ausdrücklich, daß die UT bekannt sein mußte, verstanden werden mußte, um ihre Wirkung entfalten zu können.
Auch die Vermischung war unvermeidlich. Ein latentes Wissen über die UT infizierte die gesamte Raumzeit – weil sie in jedem System dieses Universums codiert war – doch sobald sie explizit verstanden wurde, konnte diese verborgene Information dort kristallisieren, wo sich die Möglichkeit dazu ergab, indem sie sich aus dem Schaum der Quantenzufälligkeiten konsolidierte. Es hatte mehr mit der Impfung von Regenwolken als mit Telepathie zu tun. Niemand würde die Gedanken der Schlüsselfigur lesen, doch alle anderen Menschen würden ihr nachfolgen, indem sie die UT mit ihrem eigenen Bewußtsein erkannten, nachdem sie bereits in ihrem Geist und Körper codiert war.
Und die Vermischung würde bereits vor dem Aleph-Moment eintreten, wenn auch nur unvollkommen.
Aber nicht für lange Zeit.
Im letzten Abschnitt sagte Kaspar die Auflösung voraus. Auf den Aleph-Moment würde innerhalb eines Zeitrahmens von Sekunden die Degeneration der Physik zur reinen Mathematik folgen. Genauso wie der Urknall implizierte, daß ihm der Prä-Raum vorausgegangen war – eine unendlich symmetrische, brodelnde Abstraktion, in der nichts wirklich existierte oder geschah – genau so würde der Aleph-Moment das informationstheoretische Gegenstück hervorbringen, ein neues Ödland ohne Zeit und Raum.
Diese Worte, die das Ende des Universums prophezeiten, waren eine halbe Stunde, bevor ich sie las, niedergeschrieben worden.
Kaspar war nicht zur Schlüsselfigur geworden.
Ich ließ das Notepad sinken und blickte mich um. In der Ferne war die Lagune in Sicht gekommen, die in der Andeutung der Morgendämmerung silbergrau dalag. Im Westen waren noch ein paar hellere Sterne übriggeblieben. Ich konnte immer noch schwach die Musik von der Feier als fernes melodieloses Summen hören.
Die Vermischung geschah so übergangslos, daß ich es zunächst gar nicht bemerkte. Nachdem ich Reynolds’ Qual-Opfer gehört hatte, stellte ich mir vor, daß sie eine röntgenblickartige Vision hatten, daß Bilder von Molekülen und Galaxien auf sie einstürzten, daß sich das Universum in jedem Sandkorn widerspiegelte – und daß sie sich noch glücklich schätzen konnten. Ich hatte mich auf das Schlimmste gefaßt gemacht, daß der Himmel aufriß, um einen Alptraum der Mystischen Renaissance zu offenbaren, einen LSD-Trip mit Sternentoren und kosmischen Bewußtseinsebenen, das Ende aller Gedanken, die restlose Verbrennung der Vernunft.
Die Wirklichkeit war weit von alledem entfernt. Wie die codierten Markierungen im Riff-Fels begann die Oberfläche der Welt von ihren Tiefen und verborgenen Verbindungen zu sprechen. Es war wie das Erlernen einer neuen Sprache innerhalb von Sekunden, wie die Schönheit einer bisher lediglich dekorativen Kalligraphie eines fremden Alphabets, das vor meinen Augen transformiert wurde – das plötzlich seine Bedeutung offenbarte, ohne sein Erscheinungsbild in irgendeiner Weise zu verändern. Die verblassenden Sterne beschrieben das Feuer ihrer Fusion, den Druck der Gravitation, der im Gleichgewicht mit der Freisetzung der Bindungsenergien stand. Die bleiche Luft, im Osten gerötet, schilderte ihre unterschiedliche Streuung der Photonen. Das leicht gewellte Wasser verriet das Spiel intermolekularer Kräfte, die Stärke der Wasserstoffbindungen, die Elastizität einer Oberfläche, die den Kontakt mit der Luft zu minimieren bemüht war.
Und all diese Botschaften waren in einer gemeinsamen Sprache geschrieben. Es wurde auf einen Blick klar, daß sie eine Einheit bildeten.
Keine Räder innerhalb von Rädern, kein blendender kosmischer Technoporno, keine infernalischen Diagramme.
Keine Visionen. Nur Erkenntnis.
Ich steckte das Notepad ein und drehte mich lachend im Kreis. Es gab keine Überladung, keine lähmende Flut von Informationen. Die Botschaften waren schon immer dagewesen – es stand mir frei, ob ich sie zur Kenntnis nahm oder ignorierte.
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