Quasikristalle: Roman (German Edition)
die Stadt, und Judith blieb allein. Wie zur Bestätigung kippte der übertriebene Sommer ein paar Tage später in einen zu frühen Herbst. Salome und Judith halfen ihrem Vater beim Rasenmähen, frästen ungeschickt einen Hauch von sinnloser, verspäteter Ordnung in den Urwald.
Heinz war mit der Sauna fertig geworden, und die Mama klatschte vor Begeisterung in die Hände. Sie malte sich aus, wie sie sich im Winter dort aufheizen würde, so sehr, dass sie sich nachher nackt im Schnee wälzen könnte. Von dieser exaltierten Ankündigung abgesehen, änderte sich nicht viel. Sie blieb tagsüber in ihrem Zimmer, sie ging manchmal nachts spazieren, und Judith lernte, die Waschmaschine zu bedienen. Einmal fuhren Salome und sie mit dem Bus in die Stadt, um die Sachen für den Schulanfang zu besorgen.
Am Telefon erzählte Xane, dass sie und ihre Mutter viel Zeit unten bei Lizzie Denneberg verbrachten. Dass die Großeltern aus Tirol gekommen seien und im Wohnzimmer Rosenkränze beteten.
Damit möglichst viele Schüler teilnehmen konnten, wurde Claudia erst am Nachmittag des ersten Schultags begraben.
Heinz weckte Judith im Morgengrauen und sagte ihr, dass er die Mama ins Spital bringen müsse. Irgendetwas musste in der Nacht passiert sein, aber diesmal hatte sie nichts gehört. Sie trat ans Fenster und sah ihnen nach. Heinz führte Mama am Arm durch den Garten zum Auto, sie ging langsam, als wäre sie alt, der Hund lief neben ihr her und sprang immer wieder an ihr hoch, aber sie reagierte nicht.
In der Küche stand eine halbe Tasse Kaffee, Judith trank sie aus. Der Geschmack war fremd und fürchterlich. Aus dem Kasten ihrer Mutter holte sie ein schwarzes Kleid mit Spitzeneinsätzen und schwingendem Rock. Sie nahm ein lila Seidentuch und band es sich wie einen Turban um den Kopf, die Haare fast ganz darunter verborgen. Nur oben ließ sie ein Büschel herausschauen, wie eine Flamme. Salome lachte. Du schaust aus wie eine Opernsängerin, sagte sie.
Bevor sie gingen, holte Judith sich Papas alten Trenchcoat, auf den hatte sie es schon lange abgesehen. Sie verzierte ihn mit zwei Stickern – No future und Atomkraft, nein danke –, dann war sie bereit für den Tag.
Hoffentlich sind wir früher zurück als die Eltern, sagte Salome zweifelnd, und Judith sagte: Aber sicher, Baby.
Judith suchte eine Weile, bis sie das richtige Klassenzimmer fand. Vor der Tür stand Xane und sah aus, als traute sie sich nicht hinein. Sie roch geföhnt und nach Vanilleshampoo, das Vertretbarste waren ihre schmutzigen Tennisschuhe. Ein Mädchen mit kurzen pinken Haaren und einem Nasenring kam auf sie zu; so etwas war in ihrer alten Schule einfach undenkbar.
Hast du Feuer, fragte das Mädchen Judith. Durch Xane sah sie hindurch.
Zu spät, Pinkie, sagte Judith und deutete nach hinten, wo eine Lehrerin den Gang entlangkam. Sie blinzelte dem Mädchen zu wie einer alten Bekannten und ging mit ihr zusammen hinein.
Sie waren nur zu zwölft, und alle verstreuten sich wie im Kaffeehaus, mit möglichst viel Abstand zueinander. Das pinke Mädchen setzte sich an Judiths Seite, so bildeten sie mit Xane schon fast eine Gruppe. Die Lehrerin schwang sich vorne auf ihren Tisch, schlug die Beine übereinander und stach mit dem Finger durch die Luft in Richtung eines verschlafenen Burschen, der aussah wie zwanzig: Smutny, in die letzte Reihe, wie immer, und wenn du nur ein einziges Wort sagst, fliegst du raus und bleibst bis Weihnachten draußen.
Smutny stand langsam auf, wie ein zugedröhnter Bär, und ging nach hinten. Seine Tasche schleifte er am Träger nach. Er tat Judith beinahe leid, er wirkte nicht gefährlich, eher behindert. Die Lehrerin sah aus wie eine Kassierin im Supermarkt, scharfe Nase, blondiert, Krähenfüße. Sie kramte in ihrer Tasche, sah auf einen Zettel, sah Judith und Xane an und fragte: Molin, Baer? Wer ist wer? Sagt man Mólin oder Molín?
Molín, sagte Xane ein bisschen zu schrill, das bin ich.
Und du heißt wirklich Roxane? Na, dein Problem.
Einige lachten. Judith verzog verächtlich den Mund, das konnte man so oder so deuten.
Mit den anderen macht ihr euch sicher selbst bekannt. Mein Name ist Frenkel, und ich habe das Unglück, der Klassenvorstand dieses traurigen Haufens zu sein.
In diesem Stil ging es weiter. Judith amüsierte sich. Hier ließ es sich gut aushalten. Hier würde sich Xane ein wenig umstellen müssen, fern von der mächtigen Fausch, deren ruppig behandelter Liebling sie gewesen war. Diese Frenkel sah nicht so
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