Quasikristalle: Roman (German Edition)
hast du noch türkise Wolle? Könnt ihr runterkommen und mir die Mathehausübung erklären?
Denn erfüllet ist die Zeit, machet euer Herz bereit.
Nach dem Lied löste sich die Ordnung auf, und alles ging durcheinander. Dann formierten sich die Menschen zum Dreieck, dessen Spitze zur Trauerwarteschlange ausdünnte. Langsam vorrücken, irgendetwas draufwerfen auf Claudia, Blumen oder Erde. Das Geräusch der Erde auf dem Sarg musste von innen entsetzlich klingen.
Xane wartete mit einem Strauß heller Rosen hinter den Chorkindern. Judith scherte aus, machte einen großen Bogen um die Trauergesellschaft und drängte sich neben sie. Sie zupfte sie am Ärmel und streckte ihr eins der beiden braunen Papiersackerln hin, die sie im Prater besorgt hatte.
Es raschelte. Xane sah sie verständnislos an. Da riss Judith das Papier einfach auf, und zum Vorschein kamen die beiden dicken Bälle Zuckerwatte, rosa Zuckerwatte, die gar keine Ähnlichkeit mit Judiths Haarfarbe hatte, sondern eigentlich den Ton von Dodos Igelfrisur. Judith streckte Xane einen der Holzstiele entgegen, doch Xane hatte die Hände voll mit ihren Rosen. Judith verstand, nickte, schaute sich um, da war Dodo hinter ihr und nahm Xane die Blumen ab.
Dann stehen sie noch einmal nebeneinander, Judith und Xane, die schrille Dodo hält sich im Hintergrund. Sie zupfen beide an ihrer Zuckerwatte herum, durch den Transport sind die flauschigen Spindeln ein bisschen flachgedrückt worden. Xane und Judith streicheln ihre Zuckerwatte, sie frisieren sie zurecht und rücken gemeinsam vor, bis sie am offenen Grab stehen. Da unten ist Claudia. Oben sind Xane und sie, zum letzten Mal zu dritt. Judith in Papas Mantel, dazu der lila Turban und die Sticker, no future, nein, für Claudia nicht mehr.
Judith zählt leise vor, und auf drei werfen sie die rosa Bälle hinunter. Das macht kein Geräusch, nur ein leises Knirschen der Zuckerfäden, Claudia wird es nicht hören, sie wird davon nicht erschrecken, und selbst, wenn die Farbe nicht stimmt, schirmt sie der Zucker ein wenig ab von der hinterherfliegenden Erde. Sie bleiben noch einen Moment, dann treten sie zur Seite.
Am Ausgang stehen Xanes Eltern mit der Fausch zusammen. Xanes Mutter hat rote Augen. Der Gesichtsausdruck der Fausch, als sie Judith die Hand gibt. Xane ist wieder hinter ihr.
Hat es dir dort gefallen, Xane, im Leopoldeum, fragt die Fausch. Sie fragt im Singular. Und zum ersten Mal nennt sie eine Schülerin beim Vornamen, wahrscheinlich weil die Eltern danebenstehen. Da kann man schlecht ›Molin‹ schnauzen, wie sonst. Eigentlich typisch, dass sie alle Vornamen gekannt hat, auch die gebräuchlichen Abkürzungen, sie hat immer alles gewusst und sich einen Spaß daraus gemacht, es zu verbergen.
Xane antwortet nicht gleich, wahrscheinlich heult sie noch immer. Sie ist schwach, und deshalb wird alles so werden, wie es am besten für sie ist. Sie ist wieder ein kleines Kind mit Vanilleshampoo, kein Teenager mit überstürzten, aber umso heftiger vorgebrachten Entscheidungen, dem die Erwachsenen schon wegen seiner schieren Körpergröße willfahren. Dann schüttelt Xane heftig den Kopf, mit niedergeschlagenen Augen, und wehrt sich nicht, als ihre Mutter ihr den Arm um die Schultern legt.
Judith nickt den Molins zu, hebt grüßend die Hand und geht. Hinter ihr schlurft Dodo, Judith wendet sich im Gehen halb zu ihr um und macht die Gebärde für Rauchen. Obwohl sie noch viel zu nahe sind.
Errare humanum est, hört sie hinter sich die Fausch mit ihrer ironischen Schulstimme sagen, komm morgen wieder zu uns zurück, und wir vergessen das Ganze.
Judith geht mit hocherhobenem Kopf in Richtung Straßenbahn. Sie raucht, Kleid und Mantel wogen um ihre Beine, und sie erregt Aufmerksamkeit, damit und mit der verrückten Nudel an ihrer Seite. Und das sind jetzt eben die neuen Verhältnisse, getrennte Wege, das Ende der Kindheit.
Man kann nicht leben mit einer Erfahrung,
die ohne Geschichte bleibt, scheint es,
und manchmal stellte ich mir vor, ein andrer habe
genau die Geschichte meiner Erfahrung…
– Max Frisch –
2 Am Vorabend war Bernays noch mit Pauline zusammen gewesen, Paula, Pavla, Pola, Poletta, Polina. Und jetzt saß er im Flugzeug, sein ganzer Kopf ein Statement, dass er niemals erwachsen werden wollte: ein Hennaexperiment mit Mitte vierzig. Er hatte es ihr bereits gebeichtet, vom Flughafen aus. Sie hatte gekichert, ein wenig gelangweilt, und ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen, dass es sich herausgewaschen
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