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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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aus, als ob Lateingenies ihr Eindruck machten.
    Nach einer knappen Stunde war die Sache vorbei. Sie bekamen einen Stundenplan und waren entlassen. Draußen am Gang öffnete die Frenkel ein Fenster, zog eine Zigarette heraus und schnippte mit dem Finger nach der Pinken. Die zuckte mit den Schultern und zeigte auf Judith. Judith gab der Lehrerin Feuer. Sie hätte zu gern selbst eine geraucht.
    Ein Jahr noch, ungefähr, fragte Frau Frenkel kumpelhaft, ich geh gleich, und dann seh ich nichts mehr. Als Judith sich grinsend zu Xane umdrehte, schwang ihr tollkühnes Kleid unter dem Mantel. Doch Xane war schon weit weg, auf der Flucht in Richtung Treppenhaus.
    Judith verbrachte den Vormittag mit der Nasenring-Person, die Doris hieß, aber Dodo genannt werden wollte. Sie war die Stieftochter eines bekannten Theaterregisseurs und hielt sich für bisexuell. Die Haarfarbe und das Piercing gehörten zu der verzweifelten, aber wirksamen Verkleidung, die die meisten unerwünschten Personen (Erwachsene, uncoole Kinder) auf Abstand hielt; in Wahrheit war sie ein unsicheres Hühnchen, das vorsichtshalber jedem erst einmal ins Gesicht sprang. Judith hatte das nach drei Minuten durchschaut; nach vier Minuten fraß Dodo ihr aus der Hand. Als sie hörte, dass Judith in den Prater musste, wollte sie mit. Dodo hatte Geld; sie hatte massenhaft Zigaretten, und sie fuhr furchtbar gern Autodrom. Beinahe hätten sie die Zeit übersehen. Dodo folgte Judith bis zur Straßenbahn, und Judith sah keinen vernünftigen Grund, sie nicht zum Friedhof mitzunehmen, als sie darum bat. Nun würde sie ihre Sticker nicht abnehmen können, aber das war egal, die Fausch ging das sowieso nichts mehr an.
    Auf der langen Fahrt unterhielten sie sich über dies und das. Dodo behauptete, sie könne über ihren Stiefbruder exquisiten Shit besorgen. Mach dir keine Mühe, sagte Judith, obwohl das eine großartige Nachricht war.
    Über Claudia, zur Erklärung, sagte Judith düster: Sie war meine beste Freundin.
    Dodo fragte erleichtert, nicht der dünne Mod, wie heißt sie, Molin?
    Ach, die kleine Spießerin, seufzte Judith und sah aus dem Fenster, und Dodo kicherte und sagte: Ja, so was sieht man immer gleich.
    An Claudias Grab stand der Schulchor der Unterstufe, lauter Kinder zwischen elf und vierzehn, teils verstört, teils umso lachlustiger, manchmal beides zugleich. Nicht alle waren angemessen gekleidet, das war das Problem, wenn so etwas mitten in den Ferien geschah. Die Nachricht erreichte nie alle.
    Xane hatte sich zum Chor gestellt, oder sich hinter dem Chor versteckt, Judith sah nur einen Zipfel ihres Parkas. Xanes Eltern standen vorne, bei Lizzie. Judith blieb hinten.
    Der Chor sang Tauet Himmel, den Gerechten , was nicht passte, aber das einzige Kirchenlied im Repertoire war.
    Die Musik, egal welche, war bei einem Begräbnis die Hauptsache. Das Gerede machte nichts besser, aber das schöne Lied war der Moment, noch einmal fest an Claudia zu denken.
    Dass sie da vorne in der Holzkiste liegen sollte, die ganze Claudia mit ihrem Schweinsnäschen und den blonden Haaren, die sie ihr bestimmt noch einmal gewaschen hatten, konnte einem Platzangst machen. Es war unvorstellbar. Sie konnten sie nicht im Ernst da hineingelegt haben; Claudia hat nämlich Angst vor der Dunkelheit. Sie hat deshalb eine Nachtlampe, mit Maikäfern, total kindisch. Zu den Skikursen und Landschulwochen bringt sie einen Smiley mit, den man direkt in die Steckdose steckt. Notlicht, kaum Stromverbrauch. Wenn man es aussteckt oder zum Spaß mit der Hand abdeckt, weint sie, ganz leise und hoffnungslos, so wie sie eben weint. Sie mag Blumen und Tiere. Sie hat im März Geburtstag, sie ist Fisch, Aszendent Steinbock. Ihre Lieblingsfarbe ist, Judith schloss die Augen und dachte nach, ihre Lieblingsfarbe war bis vor einem Jahr Grün, aber seither, sie hörte Claudias Stimme mit dem affigen Satz: Seither mag ich alle Kombinationen von Weiß und Orange am liebsten.
    Ich möchte Biologie studieren. Ich würde später gerne in einem Nationalpark arbeiten, nicht im Zoo, Zoos sind schrecklich für die Tiere. Schau, Judith, ich hab den Engel aus Goldpapier fertig, aber ich krieg ihn einfach nicht auf die Laterne drauf. Ich vermisse euch und die Stadt und das richtige Leben, hier ist es schon schön, aber auch ein bisschen fad. Mein Opa bringt mir das Ziegenmelken bei. Gestern war ich mit der Oma in den Schwammerln. Ich wünsch mir zu Weihnachten eine Getreidemühle. Xane, was heißt ›pernicies‹? Judith,

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