Quellen innerer Kraft
suchte. Ich weiß nicht, warum ich das von meinem Vater übernommen habe. Aber das Zimmer in Ordnung bringen, den Schreibtisch aufräumen, das sindArbeiten, die ich immer verschiebe, bis ich einmal weniger zu tun habe: ein Zeitpunkt, der freilich selten kommt. So bleibt immer viel liegen. Die täglich ankommende Post bearbeite ich normalerweise sofort. Nur wenn mich Briefeschreiber dazu benutzen wollen, für sie Bibliotheksarbeit zu verrichten und geeignete Literatur auszusuchen, oder wenn sie mir ganze Romane zumuten, dann regt sich in mir Protest und ich lasse die Dinge liegen.
Manchmal können Mitbrüder überhaupt nicht verstehen, warum ich mich bei manchen Problemen nicht heftiger ereifre oder keinen lauten Widerspruch anmelde. Aber ich spüre, dass ich da auch etwas von meinem Vater gelernt habe. Es gab Bereiche, in denen er leidenschaftlich kämpfte. Immer wenn er sich vom Staat ungerecht behandelt fühlte, konnte er energisch werden und geharnischte Briefe schreiben. Aber in vielen Dingen blieb er gelassen. Manches war ihm einfach nicht wichtig, weil er aus einer anderen Quelle lebte. Wer manche Probleme als oberflächlich erkennt, den berühren sie auch nicht mehr so stark, dass er sich dafür ereifern könnte. In dieser Hinsicht ist mir mein Vater ein bleibendes Vorbild.
Eine Quelle, die mir der Vater erschlossen hat, ist die Natur. Gerne ist er mit uns Kindern durch den Wald gegangen und hat uns die Vögel und die Bäume erklärt. Abends hat er unsern Blick auf die Sternbilder gelenkt. Für mich ist es heute noch eine wichtige Quelle, aus der ich schöpfe, zu wandern und mich einfach der Natur zu überlassen, zu schauen, zu riechen, zu spüren, zu hören. In der Schöpfung begegne ich dem Schöpfer, der auch mich geschaffen hat. Und ich begegne dem mütterlichen Gott, bei dem ich mich geborgen fühle, umgeben von Liebe, von Lebendigkeit und Zärtlichkeit.
Mein Vater hat mit uns Kindern auch oft gesprochen. Er hat uns aus seinem Leben erzählt, hat uns erklärt, was ihn bewegt und was ihn angetrieben hat, so zu leben, wie er das getan hat. Das Gespräch war immer ein Verweis auf Unbekanntes, Geheimnisvolles. So erlebe ich heute oft Gespräche, die glücken. Da berühren wir etwas, was mich übersteigt. Wir diskutieren nicht einfach über Dinge, wir tauschen nicht unser Wissen aus, sondern wir gelangen sprechend auf eine ganz andere Ebene. Oft erlebe ich gerade Gespräche mit Frauen sehr inspirierend. Da erlebe ich, dass wir uns auf einmal verstehen und über das Gleiche sprechen. Die Gesprächspartnerin lockt etwas in mir hervor, was ich selber so nicht sehen würde. Diese Erfahrung ist nicht nur belebend, sie regt mich an, weiter zu suchen, um den Schlüssel zu finden, der die Tür zum Geheimnis aufschließt.
Leseerfahrungen gehören für mich zu den ganz prägenden Erfahrungen der Kindheit, zumindest wenn ich an meinen Vater denke, der sich jeden Sonntagnachmittag in ein Buch vergrub. Als meine älteste Schwester begann, Karl May zu lesen, fand sie oft ihre Bücher nicht mehr: Der Vater hatte sie genommen, um sie selbst zu lesen. Später bevorzugte er dann religiöse Bücher. Und bis ins hohe Alter las er, weil er wissen wollte, wie andere den Glauben und das Leben sahen und verstanden. Mit 68 Jahren hat er noch Russisch gelernt, weil er von diesem Land und seiner besonderen Mentalität immer fasziniert war. In der Jugend war ich selber kein großer Leser. Da war das Spielen für mich entscheidender. Doch jetzt ist das Lesen für mich eine wichtige Quelle geworden. Manche Bücher fesseln mich. Früher habe ich ganze Bücher exzerpiert. Die wichtigsten Stellen habe ich angestrichen und sie dann auf Zettel geschrieben, die ich zu den verschiedenstenThemen in einen Zettelkasten eingeordnet habe. Heute ist es mir wichtiger, mich in ein Buch zu vertiefen und lesend in eine eigene Welt einzutauchen. Jedes Buch verbreitet eine eigene Atmosphäre. Und ich spüre, allein das Eintauchen in diese Atmosphäre tut mir gut. Ich brauche mich gar nicht unter Druck zu setzen, auch zu verwirklichen, was ich lese. Das Lesen selber bereits – etwa der Schriften der Mystiker und Kirchenväter – verändert mich und meine innere Stimmung. Natürlich gibt es andere Bücher, die ich eingehender studiere und die mir neue Einsichten vermitteln, in denen mir einzelne Sätze wichtig sind.
Auch meiner Mutter, einer durch und durch praktisch veranlagten Frau, verdanke ich wichtige Quellen. In vielem ist sie mir
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