Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
die nach Österreich führte. Die Straße war hier mit einem Zaun eingefasst. Eine Vorsichtsmaßnahme angesichts der vielen Demenzkranken, vermutete Hannah. Auf dem Personalparkplatz stieg sie aus dem Wagen, schaute in die Autos der Mitarbeiter und fand schnell, was sie brauchte. Sie nahm eine eiserne Schaufel, die in einem Streusalzeimer steckte, wickelte ihren Schal darum und schlug ein Autofenster ein. Wenig später zog sie sich im Schutz der Dunkelheit um und trat in einer Schwesterntracht mit Haube und Mundschutz in das Gebäude. Unter die Kleidung hatte sie eine der Kladden gesteckt. Sie war peinlich darauf bedacht, von den Überwachungskameras an der Decke nur schlecht oder gar nicht eingefangen zu werden. Die Rezeption war nicht besetzt. Aus den Zimmern im ersten Stock drangen ein Röcheln und ein Husten herunter. Sonst war alles still. Hannah huschte hinter den Schreibtisch der Rezeption und fuhr den Computer hoch. Ihr Gesicht wurde von dem Bildschirm blau beleuchtet. Konzentriert tippte sie das Kennwort, das irgendjemand unvorsichtigerweise direkt neben den PC geklebt hatte, ein. Es lautete Sensenmann . Hier schien man Sinn für Humor zu haben.
Er lag im dritten Stock.
Sie nahm die Treppe. Fahrstühle bargen das Risiko, dass jemand mitfuhr, sie anstarrte und sie nicht kannte. Das Zimmer lag am Ende des Flurs. Sie drückte leise die Klinke herunter. Sofort schlug ihr ein süßlicher Uringeruch in die Nase. Ihr Magen hob sich.
Da lag er und schlief schnarchend. Seine Zähne lagen in einem Glas. Das war also Alois Schlickenrieder. Der Mann, der zusammen mit dem alten Rieger ihre Familie auf dem Gewissen hatte.
Hannah griff nach einem Stuhl, klemmte ihn unter die Klinke der Tür und schritt auf den greisen Mann zu. Sie griff zu der Hebeautomatik und fuhr die Lehne nach oben. Der Alte wachte auf. Sie beugte sich über ihn. Hunderte Male hatte sie diese Situation in Gedanken durchgespielt.
»Guten Abend, Herr Schlickenrieder. Sie sind dreiundneunzig Jahre alt, ein biblisches Alter. Und jetzt liegen Sie hier und warten auf den Tod.«
Der Alte zuckte mit den Augen, blinzelte. Er sah nichts.
Hannah nahm seine Brille vom Nachttisch, setzte sie ihm auf die Nase und fuhr fort. »Jetzt besser?«
Ein Röcheln war die Antwort.
»Ich weiß, dass Sie nicht dement sind. Sie verstehen mich. Vielleicht kennen Sie mich nicht persönlich. Aber Sie ahnen, dass ich für Sie das Böse bin. Der Tod, wenn Sie so wollen. Aber ich bin nicht allein. Sehen Sie sich um. Die Brille haben Sie jetzt ja. Hier im Raum befinden sich gerade so unglaublich viele Menschen, die passen alle fast gar nicht mehr rein. Da steht meine Mutter, die nie segeln wollte, der immer schlecht wurde und die aus tiefer Liebe zu ihrem Mann immer an Bord war. Da steht mein Bruder, ein Feingeist. Wollte nie die Firmen leiten. Er hatte ein so großartiges Kunstverständnis. Und da rechts von ihm, sehen Sie …«, Hannah zeigte in den leeren Raum hinein und der alte Mann röchelte nur unverständlich, »… da steht mein Vater. Er wusste von euren Geschäften. Jedes Jahr hat er zehn Prozent seines Gewinns gespendet. Wollte die Schatten loswerden. Aber ihr habt ihn immer wieder in die Dunkelheit hineingezogen. Alle sind sie tot. Zermalmt von den haushohen Schrauben eines Containerschiffs. Weil Sie es wollten.«
Sie sah seine Angst, seine Wut. Und sie wusste jetzt schon, dass sie den Ausdruck seines Gesichts nicht vergessen würde. Dann griff sie in ihre Jackentasche und zog die Kladde hervor.
»Sehen Sie? Das war mal Ihre Kladde. Und jetzt gehört sie mir. All Ihre Aufzeichnungen, wer welches Geld wann und wo geraubt und bekommen hat. Jetzt ist meine Familie frei.«
Sie wollte noch so viel sagen. Aber sie hatte keine Zeit mehr. Hannah zog die Bettdecke über den Leib des greisen Mannes und steckte ihre Ränder fest unter die Matratze, sodass der Alte seine Arme nicht mehr bewegen konnte. Dann griff sie in das Glas, zog angewidert das Gebiss heraus, hielt dem Alten die Nase zu und drückte das Gebiss, als er Luft holte, tief in seinen Rachen. Es dauerte nicht lange, bis er erstickte. Vorsichtig zog sie wieder die Decke aus der Matratze und verließ den Raum. Sie hatte nicht einmal geschwitzt. Die Schwesternkleidung warf sie in den Abfallcontainer, ehe sie sich nach Bad Wiessee aufmachte.
Schon am Ortseingang fielen ihr die vielen Polizeiwagen auf. Aber niemand schien von dem blauen Mercedes Notiz zu nehmen. Sie parkte den Wagen gegenüber dem
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