Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
die Menschen in technisierten Zivilisationen auf die digitale Abwicklung ihres Lebens verließen.
Arzu half es. Alles andere war ihr im Grunde egal. Die Möglichkeiten waren da. Sie nicht zu nutzen, während andere, Kriminelle vielleicht, diese Werkzeuge in die Hände nahmen, wäre fahrlässig. Sie hatte vor einigen Tagen mit Quercher in der Kantine des LKA darüber gestritten. Erst waren beide sachlich geblieben, dann wurde es laut. Quercher glaubte noch immer, dass mit diesem Argument auch Folter und Totalüberwachung zu rechtfertigen seien. Als sie ihn einen Dinosaurier nannte, war er wortlos aufgestanden und hatte sie sitzen gelassen. Und erst ein paar Tage später hatte er wieder mit ihr geredet. Reden müssen.
Noch immer rührte sich nichts in ihr. Als sei das Kind einfach gegangen. Arzu kramte in ihrer Hosentasche und nahm den Zettel mit der Adresse des Frauenarztes heraus, den ihr Querchers Schwester empfohlen hatte. Dr. Pauly las sie. Sie suchte im Internet nach seiner Website, fand aber nur ein paar Branchenbucheinträge. Sie war beunruhigt. Also warum nicht jetzt eine kurze Untersuchung einschieben? Das Programm arbeitete selbstständig. Sie hatte versucht, Querchers Kontakt zu erreichen, aber die Person war außer Haus. Vielleicht käme sie beim Arzt ja gleich an die Reihe und müsste nicht lange warten.
Sie wählte die Nummer. Die Arzthelferin sagte, dass die Praxis jetzt voll sei, und am Nachmittag habe Dr. Pauly keine Sprechstunde. Aber wenn es so dringend sei, könne sie am späten Mittag vorbeikommen. Der Arzt wäre im Hause und würde für sie eine Ausnahme machen.
Als Arzu aufgelegt hatte, vernahm sie unten im Flur Stimmen. Es war Quercher. Sie sah die Treppe hinunter.
»Schnell, komm runter, Arzu! Die Kollegen vom Gesundheitsamt kommen gleich!«
Sie zuckte mit den Schultern. »Na und? Weiß Anke das? Wird doch nicht so schlimm sein.«
Quercher wirkte ungewohnt gehetzt. »Doch, Arzu, komm! Wir haben eine Leiche im Keller.«
Kapitel 25
Rottach-Egern, Mittwoch, 20. 12., 07.30 Uhr
Dr. Rieger saß auf seiner Terrasse. Ein großer, orange leuchtender Heizpilz spendete Wärme. Die Haushälterin hatte auf einen Tisch aus Plastik die angewärmte Porzellantasse und die Kanne mit dem grünen Tee gestellt. Vor ihm hatte der Wind eine Schneewehe auf den Rand der Terrassenfliesen getrieben. Rieger erkannte die Spur eines Marders oder einer Katze darin. Der Hund hatte nicht angeschlagen, stellte er enttäuscht fest. Er hatte sein kleines Transistorradio, welches ihn schon auf vielen Reisen begleitete, angestellt, um die Nachrichten zu hören.
» Der Deutsche Wetterdienst hat eine Unwetterwarnung für die Region herausgegeben. Starker Schneefall mit Neuschneemengen von bis zu neunzig Zentimetern, Schneeverwehungen und orkanartige Böen von bis zu 120 km/h können heute Nachmittag und am frühen Abend auftreten. Bäume könnten unter der großen Schneelast zusammenbrechen. Achten Sie auf herabstürzende Äste oder Gegenstände. Der Deutsche Wetterdienst weist außerdem darauf hin, das Auto stehen zu lassen, wenn Sie es nicht unbedingt benötigen. Zudem besteht die Gefahr größerer Lawinenabgänge im Bereich der …«
Die von braunen Altersflecken übersäte Hand des Mannes drückte auf den Radioschalter. Die Stimme des Moderators verstummte. Dr. Rieger atmete die stechend kalte Winterluft tief in seine Lungen ein, wohl wissend, gleich husten zu müssen. Aber die Luft war klar und sauber. Er konnte nicht widerstehen. Neben ihm lagen die Liste mit den Namen und seine Rede, die er heute Abend halten würde. Seine Frau hatte sie ihm in einen alten Ordner des Bundesnachrichtendienstes gelegt. Dutzende von Unterschriften waren darauf zu sehen und ein großer verblichener Stempel: Streng geheim. Er verzog kurz seinen Mund. Dieser Papierordner war wie er selbst ein Fossil aus einer anderen, einer analogen Zeit.
Heute Abend begann die längste Nacht des Jahres. Auch in diesem Tal hatten noch vor wenigen Jahrzehnten die Menschen an Geister und Dämonen geglaubt, die in diesen langen Stunden der Dunkelheit ihre größte Macht besaßen. Dämonen – er wusste, wie die aussahen. Jede Nacht saßen sie auf Riegers Brust, erinnerten ihn an die Bilder aus den Jahren seiner Arbeit. Mit diesem Albtraum war er nicht allein. Auch die Freunde und Kameraden aus jenen Jahren erwähnten ihn zuweilen. Heute würden noch weniger von ihnen kommen. Wie schon in den Jahren zuvor. Die alten Freunde starben
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