Quo Vadis
fühlte er, man müsse wohl blind sein und auf den Vernunftgebrauch verzichten, wollte man annehmen, daß der, der da sagte: „Ich sah“, lüge. In seinen Bewegungen, seinen Tränen, seinen Zügen, den Einzelheiten der Ereignisse, die er erzählte, war etwas, was jeden Argwohn unmöglich machte. Vinicius meinte zu träumen. Aber er sah die schweigende Menge um sich, der rußige Geruch der Laternen drang ihm in die Nase, die Fackeln loderten in einiger Entfernung, und vor ihm auf dem Steine stand ein dem Grabe naher Greis mit zitterndem Haupte, der, weil er einst Zeuge gewesen, wiederholte:
„Ich sah!“
Und er erzählte ihnen die weiteren Ereignisse bis zur Auffahrt in den Himmel. Manchmal hielt er ein wenig inne, denn er sprach sehr umständlich, da die Vorgänge jeder Minute seinem Gedächtnis sich unauslöschlich eingeprägt hatten, gleich der Schrift, die in den Stein gehauen ist. Entzücken ergriff die Zuhörer; sie lösten ihre Kopfbedeckung, um ihn besser hören zu können und kein Wort zu verlieren von dem, was ihnen unschätzbar war. Es war ihnen, als seien sie durch übermenschliche Kraft nach Galiläa versetzt, als wandelten sie mit den Jüngern durch jene Haine, an jenen Wassern; der Begräbnisplatz schien ihnen in den See Tiberias verwandelt, dort am Ufer, im Morgennebel stand Christus, wie er stand, als ihn Johannes vom Schiffe aus sah und sagte; „Es ist der Herr!“ und Petrus sich ins Meer stürzte und ihm entgegenschwamm, um früher zu den geliebten Füßen zu liegen. In den Zügen der Anwesenden lag hohe Begeisterung, Vergessen des Lebens, Glück, maßlose Liebe. Als er von jenem Augenblick der Himmelfahrt erzählte, wo die Wolken sich unter den Füßen des Erlösers schlossen, ihn verhüllten und den Augen der Apostel entzogen, richteten sich unwillkürlich aller Blicke nach oben. Eine Art Erwartung folgte; es schien, als hoffe dieses Volk, ihn zu schauen, hoffe, er würde noch einmal von den himmlischen Gefilden herniedersteigen und sehen, wie der bejahrte Apostel die ihm anvertrauten Schäflein weide, und beide segnen, die Herde und den Hirten.
Rom existierte nicht für diese Leute, auch nicht der Mensch mit der Cäsarenwürde; für sie gab es keine Tempel heidnischer Götter. Nur Christus kannten sie, der das Land, das Meer, den Himmel und das Universum füllt.
In den an der Via Nomentana zerstreut liegenden Häusern begannen die Hähne zu krähen und Mitternacht anzuzeigen. In dem Augenblick zog Chilon Vinicius heftig am Mantel und flüsterte:
„Herr, ich sehe Urban, nicht weit vom Stein des alten Mannes, und ein Mädchen ist bei ihm.“
Vinicius schüttelte sich, wie aus einem Traum erwachend, und schaute nach der von dem Griechen bezeichneten Richtung. Er sah Lygia.
XXI
Jede Fiber an ihm bebte bei ihrem Anblick. Er vergaß die Menge, den alten Mann, sein eigenes Staunen über das Unbegreifliche, das er vernommen hatte – er sah nur sie. Endlich, nach so vieler Mühe, nach so langen Tagen der Angst und Qual hatte er sie gefunden! Zum erstenmal erkannte er, daß die Freude gleich einem wilden Tier auf das Herz losstürzen und es zusammenpressen kann, bis das Leben entweicht. Er, der früher angenommen, es sei eine Pflicht des Schicksals, all seine Wünsche zu erfüllen, konnte jetzt kaum seinen Augen trauen, kaum an sein eigenes Glück glauben. Ohne diesen Zweifel hätte seine leidenschaftliche Natur ihn vielleicht zu einem unbedachten Schritt getrieben; so jedoch wollte er sich zuerst überzeugen, ob dies nicht etwa eine Fortsetzung jener Wunder sei, von denen er gehört hatte, und ob er nicht etwa träume. Doch es war kein Traum; er sah Lygia wirklich, und wenige Schritte trennten ihn von ihr. Sie stand im Lichte, so daß er ihren Anblick ungehindert genießen konnte. Die Kapuze war von ihrem Haupte gefallen und hatte die Haare lose herabhängen lassen; ihr Mund war leicht geöffnet, während die Augen unverwandt auf dem Apostel ruhten. Spannung und Glückseligkeit lagen auf ihrem Antlitz. Wie ein Mädchen aus dem Volk war sie in einen einfachen Mantel aus Schafwolle gekleidet, und doch war sie nie zuvor dem Vinicius so schön erschienen. Trotz seiner Erregtheit entging ihm der Adel dieses Kopfes nicht, der sich so fremdartig von dem Kleide, das einer Sklavin geziemt hätte, abhob. Liebe, grenzenlos und vermischt mit einem wunderbaren Gefühl der Sehnsucht, der Huldigung, der Begierde, durchströmte sein ganzes Wesen. Er sog die Wonne ihres Anblicks ein, er trank von ihr wie
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