Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
dass eine Nacht im Untersuchungsgefängnis, ohne ein freundliches Gesicht zu sehen, vielleicht genau das Richtige ist, um Smith zur Vernunft zu bringen.
Er erzählt seiner Frau von dem Jungen. Sie blickt ihn verblüfft an. Normalerweise baut er keine emotionale Bindung zu dem kriminellen Gesindel auf, aus dem seine Mandantschaft üblicherweise besteht.
Er ist müde und geht früh schlafen. Als seine Frau ihn in den frühen Morgenstunden flüsternd weckt, weil sie glaubt, es würde jemand versuchen, durchs Wohnzimmerfenster einzusteigen, denkt er, sie muss einen Albtraum gehabt haben, denn schließlich liegt ihre Wohnung im zehnten Stock eines Hochhauses.
Aber als er ins Wohnzimmer geht und das Licht anmacht, kauert die Gestalt eines Mannes draußen auf dem schmalen Fenstersims.
Nein, kein Mann. Ein Junge. John Smith.
Der Verteidiger sagt seiner Frau, dass alles in Ordnung sei, öffnet das Fenster und lässt Smith herein.
»Sie haben gesagt, Sie würden kommen«, sagt der Junge halb weinerlich, halb vorwurfsvoll.
»Wie bist du aus dem Gefängnis entwischt?«, fragt der Verteidiger. »Und wie hast du mich gefunden?«
»Durch ein Fenster«, sagt der Junge. »Und die Adresse von Ihrer Kanzlei stand auf der Visitenkarte, die Sie mir gegeben haben, also bin ich durch ein Oberlicht eingestiegen und hab rumgesucht, bis ich Ihre Privatanschrift gefunden hab. Ich hab hinterher aufgeräumt, alles wieder in Ordnung gebracht.«
Seine Frau, die die Unterhaltung interessiert verfolgt hat, lässt das Brotmesser in ihrer Hand sinken und sagt: »Ich mach uns Tee.«
Sie kommt mit einer Kanne Tee und einem großen Biskuitkuchen zurück, den Smith im Verlauf der folgenden Stunde verputzt. In dieser einen Stunde holt sie mehr aus dem Jungen heraus als ihr Mann und die Polizei mit vereinten Kräften in zwei Tagen.
Als sie das Gefühl hat, nicht mehr erfahren zu können, sagt sie: »Jetzt bringen wir dich lieber wieder zurück.«
Der Junge blickt verstört, und sie beruhigt ihn: »Mein Mann sorgt dafür, dass die Anklage gegen dich fallen gelassen wird, ganz bestimmt. Aber aus der U-Haft fliehen, das geht nicht, deshalb musst du wieder im Untersuchungsgefängnis sein, wenn sie zum Wecken kommen.«
»Wir können da nicht einfach an die Tür klopfen«, wendet ihr Ehemann ein.
»Natürlich nicht. Du kannst doch so wieder reinkommen, wie du rausgekommen bist, nicht wahr, mein Lieber?«
Der Junge nickt, und eine halbe Stunde später sitzt das Ehepaar im Auto und beobachtet aus der Ferne, wie ein Schatten die Außenmauer des Untersuchungsgefängnisses hinaufläuft.
»Netter Kerl«, sagt die Frau. »Du hattest schon immer eine gute Menschenkenntnis. Wenn du ihn da rausgeholt hast, bringst du ihn mit nach Hause, bis wir uns überlegt haben, wie es für ihn weitergeht.«
»Nach Hause!«, echot der Verteidiger. »Zu uns nach Hause?«
»Wohin denn sonst?«
»Hör mal, ich mag den Jungen, aber ich hab nicht vor, ihn zu adoptieren!«
»Ich auch nicht«, sagt seine Frau. »Aber irgendwas müssen wir für ihn tun. Was soll er denn sonst machen? Weiter Autos knacken oder am King’s Cross seinen Hintern verkaufen?«
Also zieht Smith ins Gästezimmer seines Verteidigers, nachdem das Verfahren eingestellt worden ist.
Aber nicht für lange.
Die Ehefrau sagt: »Ich hab in der Kapelle von ihm erzählt. JC sagt, er würde ihn gern kennenlernen.«
Der Verteidiger verzieht das Gesicht: »Da wäre King’s Cross vielleicht die bessere Alternative.«
»Nein, da liegst du falsch. So was passiert nicht, wenn er einen Jungen unter seine Fittiche nimmt. Außerdem braucht der Junge einen Job, und an wen könnten wir uns sonst wenden?«
Das Treffen findet in einem Pub statt, nachdem der mittägliche Ansturm abgeflaut ist. Zunächst sagt der Junge nicht viel, aber zwei große Bier und das entspannte, unaufdringliche Verhalten des Mannes, JC, lösen ihm allmählich die Zunge. So sehr, dass er keinen Hehl macht aus seiner Abneigung gegen das Singen von Kirchenliedern und das Schütteln von Klingelbeuteln und überhaupt jede andere Tätigkeit, die ihm durch das Wort Kapelle in den Sinn gekommen ist.
Der Mann sagt: »Ich vermute, dir schwebt irgendwas vor, das mehr mit körperlicher Arbeit und freier Natur zu tun hat, was? Also lass hören. Was kannst du sonst noch außer senkrechte Wände rauf- und runterlaufen?«
Der Junge überlegt und antwortet dann: »Ich kann Bäume fällen.«
JC lacht.
»Ein Holzfäller! Tja, wie’s der Zufall will, hat
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