Racheopfer
erlesenen Kleidung strahlte er Autorität aus. Hätte Jennifer es nicht besser gewusst, hätte sie Kendrick und nicht den jüngeren Mann am Kopf des Tisches für den Gouverneur von Michigan gehalten.
Sie hatten sich in der Strafvollzugsbehörde an der Grandview Plaza in Lansing versammelt. Der Kreis bestand aus einer Abordnung der psychiatrischen Klinik Cedar Mill – außer Jennifer und Kendrick war David McNamara zugegen, der Sicherheitschef – und verschiedenen Leitern jener Behörden, die ihr Antrag betraf, darunter die Direktoren der Strafvollzugsbehörde DOC und des MDCH, des Amtes für Gesundheitsfürsorge des Staates Michigan. Hinzu kamen mehrere Berater des Gouverneurs sowie der Gouverneur selbst.
»Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen danken, dass Sie sich die Zeit für das heutige Treffen genommen haben«, begann Kendrick. »Sobald wir Ihnen unsere Ergebnisse präsentiert und unseren Antrag vorgelegt haben, werden Sie erkennen, wie bedeutsam unser heutiges Treffen ist. Ich möchte Sie nun bitten, Seite fünf der Broschüren aufzuschlagen, damit ich Ihnen unsere …«
Die Direktorin des MDCH, eine Frau mittleren Alters mit rabenschwarzem Haar und entschlossenem Blick, unterbrach ihn. »Verzeihung, Dr. Kendrick, aber ich habe dem Gouverneur bereits die Kernpunkte Ihrer Studie vorgelegt. Sie können also gleich zu Ihrem Antrag kommen.«
Kendrick ließ sich nichts anmerken, als ihm das Wort abgeschnitten wurde, doch Jennifer wusste genau, wie sehr es ihn verärgerte, dass seine Präsentation beendet wurde, ehe sie begonnen hatte. Kendrick war Wissenschaftler aus Leidenschaft. Seine Forschungen auf dem Gebiet der psychopathischen Störungen des menschlichen Verstandes behandelten eines der wichtigsten Themengebiete der Psychiatrie. Kendrick hatte keine Familie, die Arbeit war sein Leben. Jennifer verstand seine Hingabe nur zu gut. In ihr brannte das gleiche Feuer. Doch dessen Nahrung war nicht, wie bei Kendrick, das wissenschaftliche Verständnis, sondern etwas sehr viel Einfacheres und Primitiveres: Rache.
Kendrick warf seine Broschüre beinahe achtlos auf den Tisch. »Also gut. Ich will versuchen, mich kurzzufassen. Die Ergebnisse meiner Arbeit führen zu dem Schluss, dass die meisten Erscheinungsformen der Psychopathie von einer Gruppe miteinander verbundener Strukturen des Gehirns ausgehen, die als das paralimbische System bekannt sind und sich an der Verarbeitung von Emotionen, dem Verfolgen von Zielen, der Motivation und der Selbstbeherrschung beteiligen. Indem ich ein von mir entwickeltes tragbares fMRT-Gerät benutzt habe – die Abkürzung bedeutet ›funktionelle Magnetresonanztomografie‹ –, fand ich heraus, dass bei zahlreichen Gewalttätern das paralimbische Gewebe unterentwickelt und in manchen Fällen ernsthaft geschädigt ist. Aufgrund des von Ihnen im letzten Herbst genehmigten Antrags haben wir eine Reihe von Gewalttätern, bei denen entsprechende Schädigungen festgestellt wurden, in den Sicherheitstrakt unserer Einrichtung verlegt, um sie dort einer revolutionären neuen Behandlungsmethode zu unterziehen. Ich spreche hier von echter Rehabilitation von innen heraus, von einer Korrektur der Denkweise der Betroffenen und ihrer Weltsicht. Durch Anwendung einer Kombination aus Medikamenten und intensiver Einzeltherapiesitzungen, die als Dekompression bekannt ist, haben wir unglaubliche Ergebnisse erzielt.«
Die Direktorin des MDCH ergriff erneut das Wort. Sie klang leicht verärgert. »Wie ich bereits sagte, haben wir das schon diskutiert, Dr. Kendrick. Mich beschäftigt viel mehr die Frage, weshalb Sie diese Ergebnisse nicht publiziert haben und die Einzelheiten Ihrer Behandlung sogar vor diesem Komitee geheim hielten.«
Kendrick kniff leicht die Augen zusammen. Mit spitzen Lippen sagte er: »Ich versichere Ihnen, dass unsere Resultate absolut zuverlässig sind. Sobald die nächste Testphase abgeschlossen ist, werden wir unsere Ergebnisse und Methoden aller Welt offenlegen. Wir sind jedoch nicht die Einzigen hierzulande, die solche Forschungen durchführen, und es wäre für keinen Beteiligten von Vorteil, würden wir irgendetwas vorschnell veröffentlichen. Deshalb bin ich heute hier. Ich möchte Sie in der nächsten Phase unserer Arbeit um Mithilfe bitten.«
Jennifer hielt den Atem an, während Kendrick sich für den folgenden Teil der Präsentation bereit machte, den sie absichtlich vage gehalten hatten, weil sie befürchteten, dass man ihr Anliegen sonst rundheraus ablehnte.
Weitere Kostenlose Bücher