Radegunde von Thueringen
Hand. „Wie geht es dir, Mutter?“
„Gut, sehr gut. War ich krank?“
„Du bist zusammengebrochen, nachdem du mit der Äbtissin gerauft hattest. Du solltest mehr auf dich achten, in deinem Zustand verlierst du jeden Zweikampf!“
„Wohl auch den gegen dein loses Mundwerk!“
Basina senkte den Kopf. „Verzeih. Doch wir machen uns alle Vorwürfe, weil wir dir nicht schon eher beigestanden haben. Wem nützt es, wenn du am Wundbrand stirbst oder vor Hunger umfällst? Wir brauchen dich doch!“
„Es ist jetzt Schluss damit“, antwortete Radegunde schlicht, als wäre es selbstverständlich.
Agnes kam herein und brachte eine Schüssel Hühnersuppe. „Welch liebliche Worte in meinen Ohren. Ich hoffe, sie trügen mich nicht?“
„Ich glaube ihr!“, verkündete Basina und stopfte Radegunde ein Kissen in den Rücken. „Von heute an wird gegessen, bis die Rippen nicht mehr zu sehen sind!“
„Was macht dich so sicher?“, fragte Agnes.
„Schau dir ihre Augen an, sie hat so ein merkwürdiges Strahlen darin, als wäre sie verliebt!“
Radegunde schüttelte schwach den Kopf. „Basina, sei lieb und hole mir ein Stück Brot zur Suppe!“
Mit triumphierendem Blick eilte die Novizin davon.
Radegunde sah Agnes ernst an. „Ich habe Jesus Christus gesehen!“
Agnes schlug andächtig ein Kreuz und setzte sich an ihr Lager.
„Es war der gleiche paradiesische Weg wie damals! Ein betörender Duft, der mir noch jetzt in meiner Nase liegt. Ich weiß nicht, waren es Rosen, vielleicht auch Veilchen. Weit vor Gottes Thron kam ein Jüngling auf mich zu, so schön wie ein Traumbild, Agnes! Er sprach zu mir!“
„Was sagte er?“
Radegunde schloss die Augen und konzentrierte sich. „Er sagte: ‚Warum suchst du mich unter so viel Tränen und Seufzern und kreuzigst dein Fleisch um meinetwillen, der ich doch immer bei dir bin?’“
„Ich habe“, so sagte sie am Abend zu den Schwestern, „euch mir zu Tröstern erwählt, ihr seid meine Augen, mein Leben, meine Ruhe, meine ganze Seligkeit. Wandelt mit mir so in dieser Welt, dass wir uns darüber in der künftigen freuen können. Mit vollem Glauben und mit voller Herzensneigung wollen wir dem Herrn dienen, dass wir mit Zuversicht zu ihm sagen können: Gewähre, Herr, was du versprochen hast, denn wir haben getan, was du befohlen!“
Tränen der Erleichterung rollten über Agnes’ Wangen.
„Mutter, welche Hymne gefällt dir besser? Es sind zwei geworden, ich kann mich nicht entscheiden.“ Venantius stand mit ratlosem Gesicht vor ihr, ein ganzes Bündel Pergament unter dem Arm, in der Hand seine Leier.
„Dann wirst du beide in der Spinnstunde vortragen und wir entscheiden gemeinschaftlich.“
Venantius grinste. Diese Antwort hatte er im Stillen erhofft. Solch ein Vortrag, verbunden mit einem Wettstreit, war ganz nach seinem Geschmack. Beschwingt folgte er Radegunde.
„Wie weit bist du mit der Geschichte des Hilarius?“, fragte sie ihn.
„So gut wie fertig. Nächste Woche, denke ich, kann ich mit dem Vorlesen beginnen.“
„Gut. Hast du schon neue Pläne?“
Konnte sie Gedanken lesen? „Du weißt, dass ich den heiligen Martin sehr verehre, dem ich mein Augenlicht verdanke. Ich würde gern sein Leben aufschreiben.“
Radegunde blieb vor der Tür zum Refektorium stehen. „Eine sehr gute Idee!“, sagte sie und lächelte.
Bewegt lauschten die Nonnen den beiden Hymnen, die Venantius „Pange lingua gloriosi“ und „Vexilla regis prodeunt“ genannt hatte. Schon nach dem ersten Lied, das der Sänger mit seiner Leier begleitete, wischten sich einige der Frauen ergriffen die Augen, nach der zweiten herrschte zunächst andächtiges Schweigen, dann brach ein wahrer Sturm der Begeisterung los.
Radegunde war glücklich. Diese herrlichen Lieder würden der Prozession etwas ganz besonders Feierliches geben. Spontan umarmte sie den jungen Dichter, dessen Gesicht sich dunkelrot färbte.
„Welche ist die bessere Hymne?“, fragte sie die Versammlung.
Eine aufgeregte Diskussion kam in Gang, an der sich alle Frauen beteiligten. Venantius beobachtete atemlos, welchen Sturm der Gefühle seine Lieder bewirkt hatten.
Schließlich stand Basina auf und rief laut: „Ich finde, wir sollten beide nehmen! Die eine ist so wunderschön wie die andere. Sie müssen einem großen Herzen entsprungen sein.“ Sie lächelte Venantius zu, der erneut die Farbe einer reifen Kirsche annahm.
Alle klatschten Beifall und Agnes nickte. „Ihr habt Recht, wir werden beide singen,
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