Radegunde von Thueringen
Augapfels eine eiternde Wunde.
„Du wirst sicher nie wieder damit sehen können!“
„Das habe ich bereits geahnt“, stöhnte Giso. „Wenn ihr nur den Wundbrand aufhalten könnt und die Schmerzen lindern, will ich schon zufrieden sein.“
Radegunde rührte aus den zerstampften Blättern des Schöllkrautes einen Brei, den sie direkt auf das Auge auftrug. Entlang der gesamten Schwertwunde legten die Frauen klein geschnittene Blätter des Großen Huflattich. Dann verbanden sie Giso den Kopf, so dass nur das linke Auge, Nase und Mund frei blieben. Zum Abschluss reichte ihm die Äbtissin noch einen Schluck Mohnsaft gegen die Schmerzen.
Dann mussten sie sich beeilen. Sie brachten die beiden ins Gästehaus und rannten atemlos ins Oratorium, wo die Nonnen und Bischof Maroveus schon ungeduldig warteten.
Der Januar des Jahres 568 zeigte sich von seiner freundlichen Seite. Er brachte mildes und trockenes Wetter. Gisos Wunde begann zu heilen. Aziza wurde als Novizin eingeführt und fügte sich ohne Probleme in den Klosteralltag ein. Seltsamerweise war es gerade Basina, die sich rührend um sie sorgte und ihr eines Tages die ersten zaghaften Worte entlockte.
Bischof Maroveus hielt seine Messen ab und verhielt sich auch während der Predigten erstaunlich zurückhaltend. Nur die Bußen, die er den Nonnen auferlegte, waren deutlich härter als früher. So kam es jetzt öfter vor, dass abends in den Zellen das Knallen von Peitschenhieben zu hören war und manch eine der reuigen Sünderinnen Striemen unter der Kutte trug.
Venantius versuchte die Frauen aufzuheitern, wann immer es ging. Immer wieder musste er das Gedicht über Radegundes Weihnachtsmahl vortragen. Außerdem schrieb er unermüdlich an dem Lebensbericht des heiligen Hilarius.
An einem kalten Tag Mitte Januar hörten die Frauen während der Spinnstunde aus einem Traktat über den Sinn und den Nutzen von Reliquien.
„Sie stellen die Verbindung zwischen Himmel und Erde dar. Wer körperliche irdische Überreste eines Heiligen besitzt, kann direkt mit ihm in Kontakt treten“, dozierte Clara, die von ihrer Krankheit genesen war. „Das gilt auch für Gegenstände, die aus dem Besitz der Heiligen stammen oder mit denen sie zu Lebzeiten in enge Berührung kamen und die damit die heilige Kraft weiter in sich tragen.“
„Wir können uns glücklich schätzen, einen ganzen Finger von Mammas zu besitzen!“, schwärmte Baudonivia, während sie die Spindel tanzen ließ. „Andere Klöster besitzen nur Splitter von Heiligenknochen.“
„Spielt denn die Größe der Reliquie eine Rolle?“, wollte Basina wissen.
„Davon steht hier nichts“, antwortete Clara.
„Wir können jedoch nur mit den Heiligen Mammas oder Andreas in Verbindung treten und müssen hoffen, dass sie sich bei Gott dem Herrn für uns einsetzen“, erklärte eine der älteren Nonnen aus Arles.
„Am Hofe Sigiberts hörte ich, dass Kaiser Justinian in Konstantinopel das Kreuz Christi aufbewahrt!“, erzählte Venantius.
„Das komplette Kreuz?“, staunte Basina. „Ob da noch sein Blut dran klebt?“
Agnes sah strafend auf. „Bitte, Basina!“
„Aber es könnte doch sein. Vielleicht hat es niemand abgewaschen. Und geregnet hat es auf Golgatha auch nicht. Glaube ich jedenfalls.“
„Sie könnten uns etwas davon abgeben!“, meldete sich Aziza zu Wort.
„Von dem Blut?“ Basina schüttelte sich.
„Nein, vom Kreuz.“ Die zarte Novizin verstummte, erschrocken über ihren Mut.
Radegunde hatte die Szene schweigend verfolgt und in ihrem Kopf formte sich ein Gedanke, der sie nicht wieder losließ. Das Mädchen hatte Recht. Wenn die Byzantiner das Kreuz besaßen, dann wäre es denkbar, dass sie wenigstens einen Splitter davon entbehren konnten.
Ein Splitter vom Kreuz Christi! Sie fühlte eine Gänsehaut an ihren Armen. Wenn sie eine solche Reliquie für ihr Kloster beschaffen könnte! Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Im Geiste sah sie sich einen Brief an den Kaiser schreiben. Sie müsste die Bitte so formulieren, dass ihre Dringlichkeit überzeugend wirkte. Ein Gedanke zuckte wie ein Blitz durch das verwirrende Chaos der anderen. Amalafrid!
Sie stand auf, ohne ein Wort der Entschuldigung verließ sie die Spinnstunde. Die Schwestern sahen ihr sprachlos nach.
Im Gästehaus schnitzte Giso an einem Holzklotz. Seitdem es ihm etwas besser ging, versuchte er, sich nützlich zu machen. Der Verband war aus seinem Gesicht verschwunden, allerdings zog sich eine wulstige Narbe vom Unterkiefer bis
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