Radikal führen
ist. Und das entspricht exakt meiner Erfahrung. Die erfolgreichen Führungskräfte, denen ich im Laufe der Zeit begegnet bin, haben auf mich zum Teil extrem unterschiedlich gewirkt: Vom leise sprechenden Schöngeist über primitive Protzer bis zum eloquenten Souverän war alles dabei. Nur wenige von ihnen würde ich als charismatisch bezeichnen; ob sie als Vorbilder galten, war für mich nebensächlich; und sie verhielten sich (mir gegenüber) auch nicht authentisch. Glücklicherweise. Die meisten waren ganz normale Mitmenschen mit leicht überdurchschnittlichem Selbstbewusstsein. Mehr noch: Ich mache manchmal die irritierende Erfahrung, dass Manager, die keine Ansprüche an »gute« Führung haben, zum Teil ausgesprochen erfolgreich sind: Die Ergebnisse stimmen; die Atmosphäre zwischen den Menschen stimmt. Weit erstaunlicher noch: Eine Führungskraft, die geradezu einem Modellheft der Managementliteratur entsprungen scheint, scheitert unter optimalen Bedingungen. Wer immer das zu erklären versucht, spekuliert nur. Aber man sieht: Es ist wenig hilfreich, mit moralgetränkten Idealisierungen um sich zu werfen oder gedankenvoll nickend hochimpressionistische Urteile über »gute Führung« auszutauschen.
Aber brauchen wir nicht ein gemeinsames Führungsverständnis? Gegenfrage: Wie soll das aussehen? Was soll das sein? Beschreiben Sie mir einen Unterschied, an dem man dasfür alle sichtbar illustrieren kann! Sollten wir nicht jedem – innerhalb des legalen Rahmens! – die Freiheit geben, seinen eigenen Weg zu gehen? Können wir aushalten, dass es unterschiedliche Wege zum Führungserfolg gibt? Dass es kein gesichertes Wissen gibt über den ursächlichen Zusammenhang von Erfolg und einem bestimmten Führungsverhalten? Und dass es jedem freisteht, ein bestimmtes Ideal von »guter Führung« zu entwerfen, er aber – nach allem, was wir wissen – keineswegs sicher sein kann, dass es auch erfolgreich ist? Können Sie akzeptieren, dass Sie, anstatt Wirklichkeiten zu normativieren, besser Möglichkeiten verwirklichen sollten? Und dass Sie dabei auf eine direkte Einflussnahme verzichten, vielmehr Hindernisse aus dem Weg räumen sollten, die Erfolg vereiteln?
Was ist Führung?
Der Zweck der Führung ist nun hinreichend beschrieben. Aber was meinen wir denn, wenn wir von »Führung« sprechen? Was ist das eigentlich – Führung?
Führen als Nebenbei-Tätigkeit
Wie immer, wenn ein Begriff zu viel leisten muss, bleibt er unklar. Das gilt auch für Führung. Der Begriff ist positiv aufgeladen, darin ähnlich anderen Kollektivsingularen wie Freiheit, Bildung oder Fortschritt; aber auch rätselhaft, kalt analysiert und heiß diskutiert. Alle nutzen ihn, jeder versteht etwas anderes darunter. Viele Jahrzehnte akademischer Analyse haben Hunderte Definitionen hervorgespült, und doch gibt es keine, die eine gewisse Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen könnte. Vielleicht gehört Führung zu den Dingen, die, wie Blaise Pascal meinte, man nicht definieren kann,ohne sie zu verdunkeln. Und nicht trotz, sondern wegen seiner Unklarheit ist der Begriff »Führung« so beliebt in der Wirtschaftswelt. Er eignet sich besonders dazu, Teilaspekte zum Dogma zu erheben, ohne dass man das begründen müsste. Über wenige Gegenstände ist daher so viel fugenloser Unfug geschrieben worden.
Versuchen wir dem Führungsbegriff näherzukommen durch Rückgriff auf das härteste Kriterium, das wir für Bedeutungszuweisungen haben: Zeit. Wenn wir wissen wollen, was einem Menschen wirklich wichtig ist, dann müssen wir schauen, wie er seine Zeit verbringt. Da können wir feststellen: Bei Terminkollisionen werden immer leicht die Führungs-Termine verschoben. Und wer die Frage stellt »Wie viel Zeit verbringen Sie mit eigentlichen Führungsaufgaben?«, löst regelmäßig großes Rätselraten aus, was denn »eigentliche« Führungsaufgaben seien. Die weitaus treffendste Zustandsbeschreibung hörte ich von einem Manager des amerikanischen Autoteilekonzerns Federal Mogul: »Ich habe keine Zeit zum Führen, ich muss ja noch arbeiten.« Volltreffer. Führen ist offenbar keine Arbeit, sondern eine Nebenbei-Tätigkeit, die gleichsam verschiedene Handlungen verbindet und zu einem verstehbaren Ganzen ordnet. Und sie wird in umso stärkerem Maße zu einer Nebenbei-Tätigkeit, je weiter man die Hierarchie hinabsteigt.
Führen als Etikett
Versuchen wir es weiter mit Praxis. Es gibt kaum etwas, was Führungskräfte mehr interessiert, als eine Antwort
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