Radikal
vorgaben. Und er kann reden, wirklich reden, verdammt, er ist eine Nachtigall! Ja doch, ja! Er ist einer von uns! So beteuerten sie beglückt. Nein, das ist er nicht , entgegneten die anderen, er ist ja nicht einmal hier geboren, sondern in Kairo. Ja, das stimmt, ging es dann unweigerlich weiter, aber er ist schon seit Ewigkeiten hier . Und zwischendurch hat er überall gelernt, wo es sich lohnt. Er war an der al-Azhar! Er war in Cambridge! Er hat seinen Doktor in Harvard gemacht! Und denk mal: Er hat in Gaza persönlich Hilfsgüter ausgeliefert!
Kurz darauf begannen Texte von Hand zu Hand und von Handy zu Handy zu wandern, die Lutfi Latif geschrieben hatte. Den ersten Artikel, den Sumaya von ihm las, war in der taz abgedruckt gewesen. Er hatte sie beeindruckt, weil ihr die Worte präzise gesetzt vorkamen, jedes Argument so schlüssig, dass man sich seiner Analyse kaum verweigern konnte. Die Bewunderung stieg noch, als Sumaya, die selbst eine Zeit lang mit dem Gedanken gespielt hatte, Journalistin zu werden, erfuhr, dass Lutfi Latif zu diesem Zeitpunkt schon lange eine unregelmäßige Kolumne in der New York Times hatte. Und nicht nur schrieb er diese selbst, sondern auch seine arabischen Debattentexte, die vor allem die in London erscheinende al-Sharq al-Awsat brachte.
Lutfi Latif, das wurde Sumaya schnell klar, je mehr sie ihn wahrnahm und von ihm und über ihn las, war der Shootingstar der weltweiten Gemeinschaft der Exilmuslime. Zumindest derer, die im Westen lebten. Er war gebildet, gefragt, von allen Seiten respektiert. Es schien ihm keinerlei Mühe zu machen, die traditionelle islamische Gelehrsamkeit mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verknüpfen oder seinen freundlich bekundeten eigenenGlauben mit laufenden politischen Diskussionen in eine sinnvolle Beziehung zu setzen. Mit seiner Fähigkeit und Lust, die Dinge von Grund auf neu zu denken und zu sortieren, hatte Lutfi Latif mittlerweile längst ein globales Publikum gefunden. Barack Obama war auf ihn aufmerksam geworden, und Lutfi Latif hatte ihm bereitwillig bei dessen zweiter Kairoer Rede geholfen. Unmittelbar darauf hatten kurz nacheinander fast alle Topkader, die bei al-Qaida etwas zu sagen hatten, Lutfi Latif in ihren Hasspredigten und Brandbriefen attackiert, von Aiman al-Sawahiri über Abu Jahja al-Libi bis zu Anwar al-Awlaki und Attiyat Abd ar-Rahman, und seine »Anmaßungen« als »gefährlich« und »schandhaft« gebrandmarkt.
Im Laufe der letzten Monate hatte Sumaya nahezu alles recherchiert, das Lutfi Latif je öffentlich gesagt oder geschrieben hatte. Sie hielt sich für nicht sonderlich leicht zu beeindrucken. Aber sie war sich selbst gegenüber ehrlich genug zuzugeben, dass Lutfi Latif mehr als nur einen Gedanken formuliert hatte, von dem sie zuvor nicht einmal gewusst hatte, dass sie ihn teilte. Das war schon etwas.
Ein vorsichtiges Klopfen riss Sumaya aus ihren Gedanken.
»Susu, wie lange brauchst du noch? Ich muss in die Uni!«
»Nicht mehr lange, nur noch eine Sekunde!«
Seit vier Semestern teilte sich Sumaya die Wohnung schon mit Mina. Meistens war auch Minas Freund Ulf da, dessen eigene WG weniger harmonisch war, aber das störte Sumaya nicht. Sie mochte Mina, sie mochte Besuch, und es war schön, nicht alleine zu leben. Nur manchmal, wenn Mina und Ulf sie am Küchentisch allein zurückließen, nachdem sie zuvor schon einige Minuten lang ungeduldig unter der Tischplatte Händchen gehalten hatten, um Sumaya nicht zu beschämen, und sich dann in Minas Zimmer zurückzogen, ein Lächeln im Gesicht, die Tür sorgfältig hinter sich zuziehend, spürte Sumaya einen kleinen Stich.
Sumaya schlang sich ein Handtuch um ihre nassen Haare und öffnete die Tür.
»Besonderer Tag heute, oder?«, fragte Mina, als sie sich an Sumaya vorbei ins Bad schlängelte.
»Ja, schon. Wie kommst du drauf?«
»Ich hab dein Frühstück auf dem Tisch gesehen«, erklärte Mina triumphierend und schloss die Tür hinter sich.
Sumaya lächelte. Sie lief über den kleinen, mit Dielen verlegten Flur in ihr Zimmer und überlegte sich, was sie anziehen sollte. Der Hosenanzug wäre ordentlich, könnte aber zu formell, irgendwie bissig wirken, sinnierte sie. Also Jeans und Bluse? Sie hielt zwei Kleiderbügel vor sich in die Höhe, um sich die mögliche Kombination besser vorstellen zu können. Zu studentisch? Sumaya merkte, wie eine leichte Nervosität in ihr hochkroch. Sie setzte sich auf ihr Bett. Ich will nicht eine von denen sein, die vor einem
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